Warum Stress dick machen kann
In der Psychosomatischen Tagesklinik erlernen Patienten den gesunden Umgang mit Belastungen in Beruf und Beziehungen.
Sie hatte schon viele kluge Bücher gelesen, wie man abnimmt. Hatte etliche Diäten probiert. Manchmal verlor Carolina M.* auch ein paar Kilos. Doch wenig später stellte sie auf der Waage fest, dass sie wieder zugenommen hatte. „Das hat etwas mit ihrem Stress zu tun“, erklärte ihr Dr. Bodo Warrings, Oberarzt der Psychosomatischen Tagesklinik des Uniklinikums. Carolina hatte nie gelernt, „Nein!“ zu sagen. Sie tat, was andere wollten. Allerdings oft ungern. Aus Ärger, Angst und Wut stopfte sie dann Essen in sich hinein.
Carolina hat einen anspruchsvollen Job: Sie ist Altenpflegerin. Eigentlich liebt sie ihren Beruf. Doch die Arbeitsbedingungen machen sie fertig. Ständig ist jemand krank. Dann müssen die Kolleginnen die Arbeit mitmachen. Oft wird sie angerufen. Fast nie weigert sich Carolina einzuspringen. Es kam schon vor, dass sie zehn Tage am Stück schuftete. Nach der Schicht etwas zu unternehmen, dazu fehlt ihr oft jede Kraft. „Essen erlebt die Patientin als entlastend“, erklärt Warrings. Das ist schon lange so. Die 36-Jährige war bereits als Kind dick. Im Gespräch mit Warrings stellte sich heraus, dass sie extrem belastet aufwuchs: Ihr Vater hatte sie als Kind missbraucht.
Durch Essen lockerte sich schon damals ihre innere Spannung. Andere Wege, auf Stress und Angst zu reagieren, kannte Carolina nicht. In der Tagesklinik entdeckte die Patientin neue Methoden, mit Druck umzugehen. Während des achtwöchigen Aufenthalts nahm sie besonders gern an der Kunsttherapie teil. „Uns ist es aber auch wichtig, dass die Patienten die physiologischen Grundlagen ihrer Stressreaktionen verstehen“, so Warrings. Carolinas Verhalten war, rein physiologisch betrachtet, nämlich völlig logisch. Schon der Steinzeitmensch versuchte, sich, wenn er Stress ausgesetzt war, also wenn er kämpfen, fliehen oder sich „totstellen“ musste, möglichst viel Energie zuzuführen.
Carolina lernte, dass körperlich eine Menge passiert, wenn sie sich gestresst fühlt. „Das Gehirn ist immer mitbeteiligt, wobei die Prozesse, die in Stresssituationen ablaufen und über das vegetative Nervensystem vermittelt werden, typischerweise unbewusst bleiben“, erläutert Warrings. Der gestresste Mensch spürt allerdings, dass sein Herz schneller schlägt. Manche Menschen bekommen in Stresssituationen Heißhunger. Bei anderen wird, um Energie zu sparen, der Magen-Darm-Trakt teilweise oder ganz lahmgelegt.
Viele Metaphern, die wir in unserer Alltagssprache verwenden, verweisen auf den engen Zusammenhang von Stress und Körperreaktionen. Warrings: „Nicht umsonst heißt es, dass Stress auf den Magen schlägt oder dass jemand ‚Schiss’ hat.“ Jürgen L.* kennt letztere Körperreaktionen nur allzu gut. Seit Jahren leidet er unter Magenschmerzen. Fünf Magenspiegelungen brachten keinen Befund. Endlich kam ein Internist auf die Idee, Jürgen darauf aufmerksam zu machen, dass seine Beschwerden psychosomatischer Natur sein könnten. Der Mittvierziger litt unter ständigen Konflikten mit seiner Frau. Beide hatten unterschiedliche Auffassungen über Kindererziehung.
Dr. Bodo Warrings
Unentdeckte Depression aufspüren
Jürgen wusste sich nicht zu helfen, wenn seine Frau das Streiten begann. Er hatte nie gelernt, sachlich und lösungsorientiert zu kommunizieren. „In diesem Fall haben wir auch die Partnerin zu uns zu Gesprächen eingeladen“, schildert Warrings. Wie sich in der Tagesklinik weiter herausstellte, litt Jürgen außerdem an einer bisher noch unentdeckten Depression. „Das ist nicht selten“, so der Psychiater. Aus diesem Grund gehört eine Angst- und Depressionsgruppe zum regelmäßigen Wochenangebot der Tagesklinik. An jedem Montagnachmittag findet sie statt.
Gefühle bemerken und ihnen nachspüren, das ist vielen Menschen fremd. Auch Jürgen musste neu lernen, seine Emotionen zu erkennen und sie auszudrücken. Heute schafft er es, so Warrings, seine Magenschmerzen „umzudeuten“: „Früher lief er damit reflexartig zum Arzt, nun weiß der Patient, dass die Schmerzen ihn auf einen ungelösten Konflikt hinweisen.“
Stress ist in unserer Gesellschaft ein generelles Problem. Auswertungen von Krankenkassen zufolge nimmt die Zahl der psychischen Erkrankungen aufgrund von beruflichem Stress zu. Die KKH plädierte deshalb kürzlich für bessere Aufklärung. Auch Bodo Warrings ist dies wichtig. Weshalb er sich an der Reihe „Informationsveranstaltungen Barockhäuser“ des Zentrums für Psychische Gesundheit beteiligt. Erst im September hielt er einen Vortrag mit dem Titel „Schlägt uns der Stress auf den Magen oder macht er uns dick?“
D 12: Neues Zuhause der Psychosomatischen Tagesklinik
Gerade dicke Stressesser werden schnell zum gesellschaftlichen Outsider. Weshalb es Warrings wichtig ist, bei Vorträgen zum Thema „Stress“ immer auch über das Krankheitsbild Adipositas aufzuklären. „Menschen mit Adipositas leiden oft schrecklich unter den Reaktionen ihrer Umwelt“, sagt er. Viele getrauten sich überhaupt nicht mehr, in der Öffentlichkeit zu essen. Das Umfeld gehe automatisch davon aus, dass der Leibesumfang der Betreffenden auf einen extrem schwachen Willen zurückzuführen ist. Doch das ist ein gravierendes Vorurteil. Gerade adipöse Frauen wurden Warrings zufolge oft mehrfach in ihrem Leben traumatisiert.
*Name geändert
Kontakt:
Psychosomatische Tagesklinik
Gebäude D12
Sekretariat: 0931-201-40300
Text: Pat Christ, Fotos: GettyImages