Würzburg. Erst kürzlich zeigte eine französische Studie, dass 98 Prozent aller Krebspatientinnen und Krebspatienten durch ihre Chemotherapie unter Geschmacksveränderungen leiden. Obwohl Geschmacksveränderungen bei Chemo- und Immuntherapien mit einer Vielzahl negativer Folgen wie Mangelernährung und verminderter Therapietreue verbunden sind, werden sie immer noch unterschätzt. Das muss sich ändern, dachte sich Dr. Anna Fleischer von der Abteilung für Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Würzburg (UKW), als ein Patient mit rezidiviertem Multiplem Myelom bekannte: „Hätte ich vorher gewusst, dass ich unter der Antikörpertherapie nichts mehr schmecken kann, hätte ich sie abgelehnt, obwohl sie meine letzte Chance war.“ Für den Patienten war der Geschmack wichtiger als die Lebensverlängerung.
Patientinnen und Patienten haben unterschiedliche Geschmacksstörungen
Weitere Patientinnen und Patienten bestätigten die immense Belastung und Einschränkung der Lebensqualität durch Geschmacksstörungen. Anna Fleischer hat deshalb zunächst gemeinsam mit dem Oberarzt Prof. Dr. Leo Rasche und der Doktorandin Magdalena Roll die Geschmacksstörungen unter der Antikörpertherapie mit Talquetamab systematisch untersucht. Das Ergebnis: Alle Patientinnen und Patienten nehmen den Geschmack unterschiedlich wahr. Bei manchen schmeckt alles bitter oder metallisch, andere können Süßes oder Salziges nicht mehr schmecken. So entstand die Idee für Gustabor - eine Plattform, die Geschmacksprofile erstellt und personalisierte Ernährungsempfehlungen gibt, die helfen sollen, spezifische Geschmacksstörungen, die während der Tumortherapie auftreten, zu lindern.
Sechs bayerische Uniklinika und Patientenvertretungen beteiligt
Für das Projekt holte Anna Fleischer zunächst den Würzburger Gastroenterologen und KI-Experten Prof. Dr. Alexander Hann mit ins Boot sowie die Ernährungsberaterin Constanze Wolz vom UKW, die Ernährungswissenschaftlerin Dr. Nicole Erickson vom LMU Klinikum und weitere Expertinnen und Experten aus dem Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Universitätsklinikum Regensburg. Gemeinsam mit Patientenvertretungen wollen die drei Unikliniken im ersten Projektjahr sämtliche bereits bekannte Maßnahmen und Tipps bei Geschmacksstörungen aus rund 200 nicht-pharmakologischen Studien herausfiltern und die Internetplattform Gustabor mit 500.000 Rezepten und lebensmittelspezifischen Informationen sowie entsprechenden Such- und Filterfunktionen aufbauen.
Im zweiten Projektjahr werden die anderen drei bayerischen Uniklinika in Augsburg und Erlangen sowie das TUM Universitätsklinikum rechts der Isar involviert. Schließlich sollen an allen sechs bayerischen Uniklinik-Standorten in einer randomisierten Studie die Maßnahmen bei Patientinnen und Patienten entsprechend ihres zuvor erstellen Geschmacks- und Ernährungsprofils angewendet und evaluiert werden.
BZKF fördert Gustabor mit 467.480 Euro
Das Projekt wird ab Januar 2025 zwei Jahre lang vom Bayerischen Zentrum für Krebsforschung (BZKF) im Rahmen der Ausschreibung zur sogenannten tertiären Prävention mit 467.480 Euro gefördert. Tertiäre Prävention bezeichnet Maßnahmen, die darauf abzielen, die Folgen einer bereits bestehenden Krankheit zu minimieren, Komplikationen zu verhindern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.
Anna Fleischer hat bereits umfassende Literaturrecherchen und Befragungen betrieben sowie einen Patientenratgeber geschrieben. Was wird zum Beispiel Patientinnen und Patienten mit metallischem Geschmack empfohlen? „Ihnen kann es helfen, vorwiegend kalte Speisen und Limonade zu sich zu nehmen sowie Besteck aus Kunststoff statt aus Metall zu verwenden.“ Und wenn jemand nicht mehr süß schmecken kann? „Dann könnte Gustabor der Person Rezepte vorschlagen, die deftig lecker sind und nicht zwingend süß schmecken müssen, oder bei denen die Süße ganz stark hochdosiert werden kann“, schildert die Medizinerin.
Kombination von Geschmacksprofil, 500.000 Rezepten, Zutatenfakten und Wirkungsweisen sowie fortschrittlichen Algorithmen
„Unser Ziel ist es, dass Gustabor mittels verschiedener Algorithmen auf Basis des Geschmacksprofils einen Katalog mit maßgeschneiderten Ernährungsvorschlägen generiert, die der Patientin oder dem Patienten wirklich schmecken und helfen“, erklärt Alexander Hann. Die KI dahinter baut der Mediziner gemeinsam mit Informatikerinnen und Informatikern auf. Neben dem objektiv erstellten Geschmacksproblem werden im anonymisierten Profil Punkte wie Alter, Geschlecht, Gewicht, Tumorart, Behandlung, Ernährungsvorlieben, Nahrungsmittelunverträglichkeiten und -abneigungen berücksichtigt. Ergänzend zu den 500.000 Rezepten, die eine KI mit Wort und Bild überarbeitet hat, fließen Tabellen und Skalen ein, die Auskunft darüber geben, welche Stoffe in welchen Lebensmitteln enthalten sind und wie sie in verschiedenen Zuständen schmecken. Eine frische Aprikose schmeckt zum Beispiel anders als gepresst oder gekocht.
Appetit wird durch Jazz und orange gefördert, durch Rap und Schwarzlicht gehemmt
Manche Maßnahmen seien auch gar nicht rezeptspezifisch, so Anna Fleischer. Der Geschmack hängt oft auch vom Ambiente ab. So hat es sich bei Krebspatientinnen und Krebspatienten bewährt, während des Essens Ablenkung zu suchen und mit der Familie oder mit Freunden zu essen statt alleine. Erhebungen ergaben, dass Menschen bei Jazzmusik tendenziell mehr und bei Rapmusik weniger essen. Schwarze und violette Farbtöne werden beim Essen mit Schimmel assoziiert und lösen Ekel aus, während orange Farbtöne an frisches Obst erinnern und den Appetit anregen.
Fett als Geschmacksverstärker, Fleisch mit Süßem und zwischendurch ein Kaugummi
„Es ist nicht so, dass es noch keine Ernährungsempfehlungen gibt, aber diese erfordern ein Ausprobieren. Mal hilft das eine, mal das andere. Die Wirkung ist ganz individuell. Und genau das wollen wir identifizieren“, sagt Alexander Hann. Inspiriert hat ihn eine aktuelle Studie aus Toronto, die für Gustabor ein guter Vorgeschmack sein könnte. Eine Informationsbroschüre mit potenziell nützlichen Strategien half krebskranken Kindern, mit ihren spezifischen Geschmacksveränderungen umzugehen. Wer es zum Beispiel mild mag, sollte neutrale Speisen wie Reis, Nudeln, Kartoffeln, Huhn, Ei oder Pudding bevorzugen und die Lebensmittel kochen, das reduziert den Eigengeschmack. Wer es pikant mag, sollte viel Salz, Basilikum, Oregano, Zimt oder Ingwer verwenden und die Speisen mit kräftigen Saucen, Zitronensaft oder Essig verfeinern. Auch Fett dient als Geschmacksverstärker. Speisen mit starkem Eigengeruch sollten gemieden werden, und Fleischgerichte werden oft durch süße Beigaben wie Preiselbeeren, Kompott, Gelee oder Honigmarinaden schmackhafter. Zwischendurch können das Lutschen von Pfefferminzbonbons und das Kauen von zuckerfreiem Kaugummi, häufiges Zähneputzen und Mundspülungen unangenehme Gerüche reduzieren.
Beteiligte Partnerinnen und Partner im Projekt Gustabor:
UKW: Alexander Hann (Leitung), Anna Fleischer (Stellvertretende Leitung), Philipp Sodmann, Constanze Wolz, Leo Rasche, Imad Maatouk, Hermann Einsele, Patientenvertretungen
LMU: Nicole Erickson, Michael von Bergwelt, Volker Heinemann, Patientenvertretungen
UKR: Arne Kandulski, Sophie Schlosser-Hupf, Martina Müller-Schilling, Patientenvertretungen
UKER: Norbert Meidenbauer, Andreas Mackensen, Patientenvertretungen
UKA: Tim Pfeiffer, Martin Trepel, Patientenvertretungen
TUM: Sylvie Lorenzen, Alexander Nieto, Florian Bassermann, Patientenvertretungen
Text: Kirstin Linkamp / UKW