In Erinnerung an jüdische Ärztinnen und Ärzte

Eine vom Uniklinikum Würzburg unterstützte, öffentliche Vortragsveranstaltung informierte aus vielen Perspektiven über die Schicksale von jüdischen Ärztinnen und Ärzten in der Zeit des Nationalsozialismus.

Würzburg. Am 17. April 2024 wurden in Würzburg weitere elf „Stolpersteine“ zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus verlegt. Ergänzend dazu fand am Abend des Aktionstages im Hörsaal des Rudolf-Virchow-Zentrums am Uniklinikum Würzburg (UKW) eine öffentliche Informationsveranstaltung mit dem Titel „Jüdische Ärzte in der NS-Zeit“ statt. Organisiert wurde sie vom Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine und dem Ärztlichen Kreisverband Würzburg; das UKW und Medizinische Fakultät der Uni Würzburg fungierten als Kooperationspartner. 

Dr. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, wies in seinem Grußwort darauf hin, dass Menschen in Gesundheitsberufen in der NS-Zeit einen großen Anteil daran hatten, die nationalsozialistische Rassenlehre, den Antisemitismus und die Diskriminierung von Menschen gesellschaftlich zu legitimieren. „Von allen Akademikergruppen waren die Ärzte am häufigsten Parteimitglieder. Sie profitierten stark vom Ausschluss jüdischer Ärzte“, so Schuster. Organisierten Widerstand gab es nach seinen Worten unter Medizinern kaum. Der Würzburger Arzt betonte: „Das Wissen um die extreme Verletzung der Menschenwürde damals bewahrt uns vor unbedachten Schritten heute. In Medizingeschichte sollten wir unseren Studierenden nicht nur vermitteln, wer wann das Penicillin entdeckte. Der medizinische Nachwuchs muss auch das NS-Euthanasieprogramm kennen, die Zwillings-Versuche von Josef Mengele und die Menschenexperimente in den Konzentrationslagern.“

Die Würzburger Bürgermeisterin Judith Roth-Jörg unterstrich in ihrer Ansprache die Bedeutung der Stolperstein-Aktion und auch der Vortragsveranstaltung für einen persönlicheren Zugang zu den unfassbaren Ereignissen der NS-Zeit. Begrüßt wurden die über 400 Zuhörerinnen und Zuhörer von Philip Rieger, dem Kaufmännischen Direktor des Uniklinikums. Er dankte vor allem dem Würzburger Arbeitskreis Stolpersteine für die kontinuierliche Arbeit beim Verlegen der Stolpersteine. Damit werde die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus weiterhin dauerhaft an den verschiedenen Orten in der Stadt im Alltag präsent gehalten.

Verfolgung prägte die Biografien der Ärztinnen und Ärzte

Den Hauptvortrag des Abends übernahm die Historikerin Linda Damskis. Gestützt auf die Inhalte ihres Buches „Zerrissene Biografien – Jüdische Ärzte zwischen nationalsozialistischer Verfolgung, Emigration und Wiedergutmachung“ zeigte sie auf, wie das NS-Regime jüdischen Medizinerinnen und Medizinern ihre berufliche, soziale und wirtschaftliche Existenz raubte. Viele wurden Opfer der Deportationen in die Vernichtungslager. Andere überlebten in der Emigration, wo sie unter höchst unterschiedlichen Bedingungen einen beruflichen Neuanfang suchten. Nur die wenigsten kehrten nach 1945 in die frühere Heimat zurück. Anhand von ausgewählten Lebensläufen zeichnete Damskis zum einen nach, dass die nationalsozialistische Verfolgung sich gezielt gegen die Berufsgruppe der jüdischen Ärzte richtete und in jedem Fall Auswirkungen auf das Lebensganze entfaltete. Zum anderen würdigte sie durch eine differenzierte Darstellung die Individualität der Verfolgten. Das biografische Spektrum reichte von Deportationsopfern und Überlebenden des Holocaust bis zu Emigranten und Remigranten. Damskis ließ die Geschichte jüdischer Ärzte somit nicht in der NS-Zeit enden, sondern blickte über die Epochenzäsur von 1945 hinaus bis hin zur späteren Auseinandersetzungen um Entschädigung für das erlittene Unrecht. „Dabei ging es nicht nur um die materielle Seite“, betont Damskis, „sondern auch darum, dass die Verfolgung als Unrecht anerkannt wurde. Darin lag ein hoher symbolischer Wert. Denn durch die Möglichkeit, einen Antrag auf Entschädigung zu stellen, konnten entrechtete Mediziner wieder als Rechtssubjekte gegenüber dem ehemaligen Verfolgerstaat auftreten.“

Aufwändige Recherche für ein möglichst vollständiges Bild

Obwohl 1933 weniger als ein Prozent der Deutschen Juden waren, betrug ihr Anteil bei Ärztinnen und Ärzten mehr als zehn Prozent. In einigen Städten, wie zum Beispiel in Berlin, und in einigen medizinischen Fachgebieten, war der Anteil an Jüdinnen und Juden besonders hoch. So waren etwa die Hälfte aller Kinderärztinnen und -ärzte sowie mehr als ein Viertel der Hautärztinnen und -ärzte jüdischen Glaubens. Schon unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten erfuhren sie Repressalien. Wie schwierig ein möglichst vollständiges Erinnern an diese Personen und ihre Schicksale ist, verdeutlichten Prof. Dr. Eva-Bettina Bröcker und Prof. Dr. Wolfgang Schmitt-Buxbaum in ihrem Vortrag. Die ehemalige Direktorin der Würzburger Universitäts-Hautklinik und der langjährig am Würzburger Juliusspital tätige Röntgenologe widmen sich dieser medizinhistorischen Aufgabe seit einigen Jahren und veröffentlichten ihre Ergebnisse im Jahr 2022 in einem gemeinsamen Buch. Sie berichteten bei der Veranstaltung, dass bislang als Informationsgrundlage über die Betroffenen oft die Mitgliederlisten der medizinischen Fachgesellschaften herangezogen werden. „Da aber viele jüdische Ärztinnen und Ärzte aus ihrer Fachgesellschaft austraten oder zum Austritt gezwungen wurden, kann man sich nicht allein auf diese Dateien stützen“, schilderte Bröcker. Als weitere Quelle können nach ihren Worten die Reichs-Medizinal-Kalender (RMK) dienen. Das ab dem 19. Jahrhundert jährlich aktualisierte Nachschlagewerk erfasste alle approbierten Ärztinnen und Ärzte Deutschlands mit ihrem jeweiligen Fachgebiet. „Im Jahr 1937 wurde befohlen, jüdische Ärztinnen und Ärzte im RMK mit einem graphischen Zeichen zu kennzeichnen. Das infame Ziel dabei war, all diesen im Folgejahr ihre Approbation und damit die Möglichkeit zur Berufsausübung entziehen zu können, was dann 1938 auch geschah“, erläuterte Schmitt-Buxbaum. 
Der RMK von 1937 listete 4264 noch in Deutschland tätige jüdische Ärztinnen und Ärzte auf. Beim akribischen Vergleich mit Artikeln und Büchern aus den Jahren 2000 bis 2020 fand das Autorenduo 960 ärztliche Kolleginnen und Kollegen, die in den bisher publizierten Gedenklisten noch fehlten. Deren Namen und Fachgebiete sind im Anhang ihres Buchs „Von Dr. Abel bis Dr. Zwirn – das schwierige Gedenken an jüdische Ärzte und Ärztinnen im Nationalsozialismus“ aufgeführt, was nach ihrer Einschätzung künftige medizinhistorische Recherchen erleichtern könnte.

Lebenswege von lokalen jüdischen Ärztinnen und Ärzten

Eine lokale Perspektive brachten Ingrid Sontag und Elke Wagner vom Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine ein. In ihrem Vortrag präsentierten sie einige Rechercheergebnisse zu jüdischen Ärztinnen und Ärzten in Würzburg. Sie erläuterten, wie sich die Zahl der niedergelassenen Medizinerinnen und Mediziner bis 1938 entwickelte und in welchen Bereichen sie tätig waren. Auffällig war hierbei der hohe Frauenanteil: Zeitweise wurden fünf von insgesamt 14 jüdischen Praxen in Würzburg von Ärztinnen geführt. „Was die Krankenhäuser der Stadt angeht, war natürlich die Tätigkeit von jüdischen Ärzten im Israelitischen Kranken- und Pfründnerhaus in der Konradstraße bedeutend, aber auch im Luitpoldkrankenhaus, dem späteren Uniklinikum, arbeiteten viele jüdische Professoren“, schilderte Ingrid Sontag. Deren Namen, wie Manasse, Grünthal, Hellmann oder Meyer-Alsleben, sind nach ihren Worten heute nur noch wenigen bekannt. Als Fallbeispiele beschrieb Elke Wagner die Schicksale von drei Würzburger Ärzten: Hofrat Dr. Max Pretzfelder wurde der Opfer der Shoa, Heinrich Oppenheimer überlebte, weil er eine nicht-jüdische Ehefrau hatten, während Max Strauss, der Inhaber der größte Kassenpraxis Würzburgs, größten Repressalien ausgesetzte war und – wie die meisten – emigrieren musste. Die Referentinnen stellten ein Handout zu Verfügung, das in knapper Form die Lebenswege von etwa lokalen 40 Ärztinnen und Ärzten aufzeigt, die ihre Tätigkeit oder Ausbildung zwischen 1933 und 1938 abbrechen mussten. Die Angabe der wichtigsten Recherchequellen soll es ermöglichen, sich genauer zu informieren und zu weiteren Recherchen im medizinischen Umfeld anregen.

Klara-Oppenheimer-Route als weiteres Element der Erinnerungskultur

Die Veranstaltung war zudem eine Gelegenheit, die von der Klara-Oppenheimer-Schule gemeinsam mit dem Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine und dem Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken neu entwickelte Klara-Oppenheimer-Route durch die Würzburger Innenstadt der Öffentlichkeit vorzustellen. Laut Dr. Christina Burger vom Arbeitskreis Stolpersteine Würzburg zeichnet das Projekt die Lebensstationen der Namensgeberin der Schule nach. Die im Jahr 1867 geborene Klara Oppenheimer gehörte zu den ersten vier Studentinnen, die sich an der Universität Würzburg einschrieben, und war 1918 die erste Ärztin, die sich in Würzburg niederließ. Geprägt durch ihren eigenen Berufsweg setzte sich Oppenheimer für die gleichberechtigte Bildung und Berufstätigkeit für Männer und Frauen ein und leistete hier Pionierarbeit. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 war sie in ihrer zweiten Lebenshälfte als Jüdin Denunziation, Entrechtung und Enteignung ausgesetzt. 1943 wurde sie in Theresienstadt ermordet. „Die Route soll vor allem junge Menschen ansprechen und den historischen Kontext der Zeit des Nationalsozialismus vermitteln“, schilderte Christoph Zobel, Lehrer an der Klara-Oppenheimer-Schule. Der Audiowalk nutzt dazu analoge und digitale Medien. Er startet am Wohnhaus der Familie in der Friedensstraße 26 und endet am Denkort Deportationen am Würzburger Hauptbahnhof. Unterwegs werden an verschiedenen Stationen Themen wie Widerstand, Bildung und Frauenrechte sowie Vielfalt der in der NS-Zeit verfolgten Menschen angesprochen. Die Route wird Mitte Mai 2024 fertiggestellt und dann auch digital auf der Website der Klara-Oppenheimer-Schule verfügbar sein.

Die musikalische Gestaltung des Abends übernahmen Schülerinnen und Schüler des Matthias-Grünewald-Gymnasiums.
 

Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, bei der Informationsveranstaltung am UKW. Foto: UKW / Anna Wenzl
Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, bei der Informationsveranstaltung am UKW. Foto: UKW / Anna Wenzl

Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, bei der Informationsveranstaltung am UKW. Foto: UKW / Anna Wenzl