Wir sind wir und die anderen sind eben – anders. Das Gefühl, einer bestimmten Gruppe anzugehören, die sich klar von anderen Gruppen unterscheidet, ist vermutlich eine menschliche Eigenschaft, die an niemandem vorübergeht. Damit verbunden sind in der Regel ebenso klare Vorstellungen darüber, worin sich die Anderen von einem selbst unterscheiden: In der 1b sitzen lauter Streber, findet die 1a; Frauen können schlecht einparken, sagen Männer; Spanier sind nie pünktlich, glauben Deutsche.
Wie sich solche Vorurteile oder – neutraler formuliert – diese Form der Voreingenommenheit beeinflussen lassen: Das hat jetzt ein Team von Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern aus Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz untersucht. Verantwortlich dafür war Grit Hein, Professorin für Translationale Soziale Neurowissenschaften an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Würzburger Universitätsklinikums, zusammen mit Philippe Tobler, Professor für Neuroökonomie und Soziale Neurowissenschaften an der Universität Zürich. In der Fachzeitschrift The Journal of Neuroscience hat das Team die Ergebnisse seiner Untersuchungen veröffentlicht.
Neue Erfahrungen verändern die Einschätzung
„Unsere Studie zeigt, dass eine realistische Einschätzung der Eigenschaften der Gruppenmitglieder, denen man sich selbst zugehörig fühlt, dazu beiträgt, die eigene Gruppe anderen gegenüber weniger stark zu bevorzugen“, erläutert Hein das zentrale Ergebnis ihrer Untersuchungen. Oder, anders formuliert: Wer sich darüber im Klaren ist, dass in der eigenen Gruppe auch nicht alles perfekt ist, fällt nicht so schnell ein negatives Urteil über andere.
Das ist allerdings nur ein Teil der jetzt veröffentlichten Ergebnisse. Hein und ihr Team haben sich auch dafür interessiert, auf welche Weise solch eine realistische Einschätzung zu erreichen ist: eher durch Lernen aus Erfahrungen mit den Mitgliedern der anderen Gruppe oder vielleicht doch über neue – und möglicherweise realistischere – Erfahrungen mit den scheinbar vertrauten eigenen Gruppe.
Auch hier zeigt die Studie ein eindeutiges Ergebnis: „Obwohl unsere Probanden sowohl von Erfahrungen mit der eigenen als auch mit der fremden Gruppe lernten, hatten die neuen Erfahrungen mit der eigenen Gruppe einen stärkeren Effekt. Wenn diese Erfahrungen negativ waren, verringerte das die Bevorzugung der eigenen Gruppe im Vergleich zur Fremdgruppe. Je stärker die Identifikation anfangs ist, desto ausgeprägter ist diese Verringerung“, erklärt die Neurowissenschaftlerin.
Eine Studie mit zwei Gruppen
Durchgeführt wurde die Studie an der Universität Zürich. Dabei traf eine Gruppe Schweizer Teilnehmer auf eine Gruppe, deren Familien aus dem Nahen Osten stammten. Den Schweizer Probanden wurde mitgeteilt, dass sie während des Versuchs über eine Elektrode schmerzhafte Stimulationen am Handrücken erhalten würden. Allerdings könnte eine der anwesenden Personen, entweder ein Schweizer oder eine Person mit familiärem Hintergrund aus dem Nahen Osten, die Stimulation verhindern. Allerdings würde sie damit auf Geld verzichten, das sie sonst erhalten würde.
Tatsächlich war der Ablauf des Experiments allerdings an diesem Punkt „manipuliert“. „Prinzipiell blieb der schmerzhafte Schock in 75 Prozent aller Fälle aus – unabhängig davon, ob ihn Mitglieder der eigenen oder der fremden Gruppe verhindern sollten“, erklärt Grit Hein. Dementsprechend waren für die Versuchsperson mit der Elektrode die objektiven Erfahrungen mit den beiden Gruppen in allen Fällen gleich und überwiegend positiv.
Fragen zu Sympathie und Gruppenzugehörigkeit
Wie wirkt sich diese Erfahrung aus? Auskunft darüber gaben die Antworten der Teilnehmer auf einem Fragebogen, den sie vor und nach dem Lernexperiment bearbeiten mussten. Teil dieses Fragebogens waren Fragen zur Gruppenzugehörigkeit – „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie das Wort ‚wir‘ verwenden, um sich selbst und diese Personen zu beschreiben?“, zur Ähnlichkeit – „Wie viel haben Sie mit diesen Personen gemeinsam?“ und zur Sympathie – „Wie wohl fühlen Sie sich bei der Vorstellung, diese Personen in Zukunft zu treffen?“.
In die Auswertung einbezogen wurden auch Einschätzungen der Versuchsperson während des Experiments zu der Frage, wie sehr er mit einer schmerzhaften Stimulation rechne, nachdem ihm der Versuchsleiter mitgeteilt hatte, welche der beiden Gruppen in dem jeweiligen Durchgang seine Schmerzen abwenden könne – die Schweizer oder die mit Migrationshintergrund.
Eindeutige Aktivitätsmuster im Gehirn
Während die Probanden Hilfe von einem Mitglied der eigenen oder der fremden Gruppe erhielten, wurde ihre Hirnaktivierungen mit Hilfe eines Kernspintomographen aufgezeichnet.
Die Ergebnisse zeigten, dass die veränderte Einschätzung der eigenen und der Fremdgruppe mit einer veränderten Interaktion zwischen zwei bestimmten Hirnarealen einhergeht: „Auf neuronaler Ebene standen diese Prozesse im Zusammenhang mit der Kopplung zwischen dem linken unteren Parietallappen und der linken vorderen Insula, Regionen also, die mit der Aktualisierung von Eindrücken in Verbindung gebracht werden“, erklärt Grit Hein.
Wichtige Belege für die Prägung sozialer Eindrücke
„Unsere Ergebnisse zeigen, wie wir von Erfahrungen mit Mitgliedern der eigenen und fremder Gruppen lernen und wie diese Erfahrungen unsere Einstellung gegenüber diesen Gruppen prägen“, fasst Grit Hein das Ergebnis der Studie zusammen. Sie würden die Lernprozesse und neuronalen Prozesse aufzeigen, durch die sich Einstellungen durch Erfahrungen dynamisch verändern.
Wenn also Menschen Erfahrungen machen, die sich nicht mit ihren Erwartungen decken, gleicht sich ihr Urteil über Angehörige einer fremden Gruppe ihrem Urteil über die Mitglieder der eigenen Gruppe an. Eine realistische Einschätzung der eigenen Gruppe ist demnach eine vielversprechende Strategie, um deren Bevorzugung zu mindern – eine Erkenntnis, die praktische Auswirkungen auf die Verbesserung der Beziehungen zwischen den Gruppen haben könnte.
Originalpublikation
Learning from Ingroup Experiences Changes Intergroup Impressions. Yuqing Zhou, Björn Lindström, Alexander Soutschek, Pyungwon Kang, Philippe N. Tobler and Grit Hein. Journal of Neuroscience 29 July 2022, JN-RM-0027-22; DOI: doi.org/10.1523/JNEUROSCI.0027-22.2022