Würzburg. Plötzliche Lähmung, Taubheit, Verwirrung, Geh-, Sprach- und Sehstörungen können auf einen Schlaganfall hinweisen, der schnellstmögliche medizinische Hilfe erfordert. Bei einem ischämischen Schlaganfall, der einen Großteil der Schlaganfälle ausmacht, wird ein Teil des Gehirns aufgrund einer Unterbrechung der Blutversorgung geschädigt. Das wirkstärkste Therapieverfahren ist die mechanische Thrombektomie, die allein oder in Kombination mit medikamentöser Thrombolyse durchgeführt werden kann. Dabei wird das für den Schlaganfall verantwortliche Gerinnsel mittels eines interventionell-radiologischen Katheterverfahrens - minimalinvasiv - aus dem betroffenen Blutgefäß des Gehirns entfernt und die Blutversorgung wiederhergestellt.
Risiken für Komplikationen nach einem Schlaganfall
Auch bei schneller und effizienter Behandlung können bedauerlicherweise im Verlauf bisher unvorhersehbare, schwerwiegende Komplikationen auftreten, wie beispielsweise eine raumfordernde Blutung im betroffenen Hirnareal oder neurologische Beeinträchtigungen mit hohem Behinderungsgrad aufgrund ausgedehnter Gewebeschäden. Obwohl allgemeine Risikofaktoren wie Bluthochdruck oder eine lange Zeitdauer bis zum Therapiebeginn in nachträglichen Analysen einiger Therapiestudien zur mechanischen Thrombektomie beschrieben wurden, ist bisher noch nicht verstanden, welche individuellen Faktoren dazu führen, dass bestimmte Patientinnen und Patienten ein höheres Risiko für schwere Verläufe haben. Deshalb war es bisher noch nicht möglich, die klinische Praxis für potenzielle Risikogruppen frühzeitig und individuell anzupassen.
Sogenannte Matrix-Metalloproteinasen (MMP) werden seit langem mit Blutungskomplikationen und neurologischen Beeinträchtigungen nach einem ischämischen Schlaganfall in Verbindung gebracht. Allerdings existieren noch keine Studien, welche die früheste Freisetzung dieser Enzyme direkt in den vom Schlaganfall betroffenen Hirnregionen und ihre prognostische Bedeutung in einem therapeutischen Kontext untersucht haben.
Intravaskuläre weiße Blutkörperchen - neutrophile Granulozyten - als Quelle von MMP-9 identifiziert
Das hat Dr. Alexander Kollikowski vom Institut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) nun gemeinsam mit Prof. Dr. Michael Schuhmann, Leiter des klinischen Labors der Neurologie, und der interdisziplinären neurovaskulären Arbeitsgruppe geändert. Ihre Forschungsergebnisse zu verschiedenen Matrixmetalloproteinasen und ihrer prognostischen Relevanz, die anhand von winzigen Blutproben direkt aus dem Gehirn von Schlaganfallpatientinnen und -patienten gewonnen wurden, noch bevor das Gerinnsel mechanisch entfernt wurde und das wiedereinströmende Blut die Situation vor Ort massiv verändert hätte, wurden in eBioMedicine, dem translationalen Fachjournal der international führenden Lancet-Gruppe, veröffentlicht.
Das endovaskuläre Schlüsselverfahren hierzu hatte das interdisziplinäre Team in mehrjähriger Vorarbeit etabliert. Dabei konnten die Forschenden erstmals belegen, dass beim Menschen während eines Schlaganfalls eine sofortige massive Entzündungsreaktion im Gehirn stattfindet, die durch bestimmte Botenstoffe sowie eine Immunzellinvasion in das abgeriegelte Gefäßsystem über Umgehungskreisläufe charakterisiert ist. Nun haben die Forschenden aus Würzburg bei ihrer Analyse von 264 Proben von 132 Schlaganfallpatientinnen und -patienten belegen können, dass von eindringenden Neutrophilen, einer Art weißer Blutkörperchen, enzymatisch aktive Matrixmetalloproteinase (MMP)-9, nicht aber das zur gleichen Enzymfamilie gehörende MMP-2, in die Blutgefäße des betroffenen Hirnareals freigesetzt wird.
Lokale Freisetzung von MMP-9 ist ein Prädiktor für schwerste Verläufe
Und tatsächlich: „Die lokale Freisetzung von MMP-9 vor Thrombektomie war ein starker unabhängiger Prädiktor für raumfordernde Einblutungen und schwerste Behinderung oder Tod im frühen klinischen Verlauf trotz erfolgreicher Rekanalisation“, schildert Alexander Kollikowski. „Die Daten aus den gewonnen Proben deuten darauf hin, dass lokal stärkste Konzentrationserhöhungen von MMP-9 einen erheblichen Informationswert für die Vorhersage dieser Ereignisse haben, womit wir erstmals einen Konzeptnachweis für früheste lokale Biomarker vor einer therapeutischen Rekanalisation erbracht haben.“ Damit ist örtlich freigesetztes MMP-9 ein pathophysiologisch relevanter Biomarker zur Identifizierung der klinisch relevantesten Hochrisikogruppen für schwere Verläufe nach einer mechanischen Thrombektomie, noch bevor die eigentlich therapeutischen Schritte eingeleitet werden, um den Blutfluss zum betroffenen Hirnareal wiederherzustellen.
Für diesen Befund gibt es eine plausible Erklärung aus der Grundlagenforschung: Es ist seit langem bekannt, dass MMP-9 die schützende Blut-Hirn-Schranke schwer schädigen kann, was wiederum eine erhöhte Blutungsneigung zur Folge hat. Michael Schuhmann resümiert: „Unsere Ergebnisse haben damit weitreichende Implikationen für die zukünftige präklinische und klinische Schlaganfallforschung, insbesondere für die Implementierung erweiterter Behandlungskonzepte für die Akutphase zur Verbesserung des Outcome. Im Rahmen weiterführender Untersuchungen zeichnen sich schon jetzt vielfältige erweiterte Konzepte für zukünftige Schlaganfalltherapien ab.“
Forschungsförderung
Diese Untersuchungen wurden durch das Interdisziplinäre Zentrum für Klinische Forschung (IZKF) der Medizinischen Fakultät des Universitätsklinikums Würzburg (Projekt T-516; Kollikowski/Schuhmann: Integration von zerebraler Hämodynamik, Hämorheologie und Inflammation im hyperakuten Schlaganfall) und die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG (TR240 Projekt B02; Stoll/Pham: Thrombozyten-abhängige Schädigungs- und Schutzmechanismen im akuten Schlaganfall) gefördert. Aktuell wird Michael Schuhmann durch die Hentschel-Stiftungsprofessur unterstützt.
Zahlen, Daten und Fakten zum Schlaganfall
Jedes Jahr erleiden etwa 250.000 bis 300.000 Menschen in Deutschland einen Schlaganfall. Laut Robert-Koch-Institut hatten bereits 2,5 Prozent der Erwachsenen hierzulande einen Schlaganfall, das entspricht einem von 40 Menschen in Deutschland. Trotz Fortschritten in der Vorsorge und Behandlung wird die globale Krankheitslast infolge von Schlaganfällen bis zum Jahr 2050 stetig ansteigen, sodass es zu diesem Zeitpunkt weltweit rund 200 Millionen Überlebende von Schlaganfällen geben wird, einhergehend mit jährlich über 30 Millionen Neuerkrankungen und 12 Millionen Todesfällen. Weitere Informationen:Deutsche Schlaganfall Gesellschaft, Stiftung Deutsche Schlaganfall Hilfe und Hentschel-Stiftung.
Literatur; The Lancet Discovery Science:
Kollikowski, A. M. et al. MMP-9 release into collateral blood vessels before endovascular thrombectomy to assess the risk of major intracerebral haemorrhages and poor outcome for acute ischaemic stroke: a proof-of-concept study. EBioMedicine 103, 105095 (2024). doi.org/10.1016/j.ebiom.2024.105095
Text: Kirstin Linkamp