Würzburg. Beim ischämischen Schlaganfall, der vier von fünf Schlaganfällen ausmacht, muss schnell gehandelt werden, um die Durchblutung des Gehirns wiederherzustellen und bleibende Hirnschäden zu verhindern. Das Blutgerinnsel, das die Blutzufuhr zu einem Teil des Gehirns unterbrochen hat, kann durch eine katheterbasierte mechanische Thrombektomie, das wirksamste Verfahren in der akuten Gefäßmedizin, entfernt werden, um den physiologischen Blutfluss wiederherzustellen und ein Fortschreiten des Infarkts zu verhindern. Einige Patientinnen und Patienten profitieren jedoch selbst bei schneller und effizienter Behandlung nicht ausreichend von dieser Therapie und haben auch nach einer erfolgreichen Gefäßrekanalisation weiterhin neurologische Defizite. Während die Wirksamkeit der Behandlung stark vom Zeitpunkt der Intervention und dem Ausmaß der bereits eingetretenen Gewebsschädigung abhängt, wurden auch bestimmte Enzyme, insbesondere Matrix-Metalloproteinasen (MMP), vor allem nach der Gefäßrekanalisation mit anhaltenden neurologischen Störungen und Blutungskomplikationen in Verbindung gebracht.
Kurt-Decker-Preis für die Entdeckung eines prätherapeutischen Prädiktors für schwere Verläufe
Dr. Alexander Kollikowski vom Institut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie des Universitätsklinikums Würzburg (UKW) hat erstmals die früheste Freisetzung dieser Enzyme direkt in den vom Schlaganfall betroffenen Hirnregionen und ihre prognostische Bedeutung im therapeutischen Kontext vor einer Gefäßrekanalisation untersucht. Für die hierbei gewonnen wegweisenden Erkenntnisse erhielt er im Rahmen der 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neuroradiologie (DGNR) in Kassel den renommierten Kurt-Decker-Preis.
Zum Projekt, das vom Interdisziplinären Zentrum für Klinische Forschung (IZKF) Würzburg und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Clinician Scientist programms UNION CVD und des Sonderforschungsbereichs SFB/TR 240 finanziert und im Fachjournal eBioMedicine (The Lancet Discovery Science) veröffentlicht wurde: Gemeinsam mit Prof. Dr. Michael Schuhmann, Leiter des Klinischen Labors der Neurologie und der interdisziplinären neurovaskulären Arbeitsgruppe, hat Alexander Kollikowski 264 Flüssigbiopsien von 132 Schlaganfallpatientinnen und -patienten mit einem Großgefäßverschluss untersucht, die im Rahmen der mechanischen Thrombektomie mittels Mikrokatheterverfahren vor Wiedereröffnung aus dem betroffenen Gefäßsegment des Gehirns gewonnen wurden. Hierbei konnten die Matrixmetallproteinasen in einem Zustand analysiert werden, noch bevor das nach der Gerinnselentfernung wieder einströmende Blut die Situation vor Ort massiv verändert hätte. Die Forschenden fanden einerseits heraus, dass Neutrophile, eine Art intravaskulärer weißer Blutkörperchen, direkt während des Schlaganfalls in das betroffene Gefäßgebiet einwandern und enzymatisch aktive Matrix-Metalloproteinase-9 (MMP-9) freisetzen, und zeigten andererseits, dass sich dieser Prozess als bedeutend für den Krankheitsverlauf erwies.
MMP-9 in Flüssigkeitsbiopsien aus Kollateralgefäßen ermöglicht präzise Prognoseabschätzung nach Gefäßrekanalisation
„Unsere Analysen haben gezeigt, dass lokale, prätherapeutische Konzentrationen von MMP-9 ein unabhängiger Prädiktor für schwere Hirnblutungen und einen ungünstigen klinischen Verlauf einschließlich schwerer Behinderung oder Tod nach Rekanalisation sind“, sagt Alexander Kollikowski. Die Ergebnisse positionieren MMP-9 in Kollateralgefäßen als ersten lokalen Biomarker zur Identifizierung von Hochrisikogruppen unter Thrombektomie-Kandidatinnen und -Kanditaten und liefern damit den Konzeptnachweis für früheste lokale Biomarker im ischämischen Schlaganfall.
Was bedeutet das konkret für die Therapie? „Die Bestimmung der Freisetzung von MMP-9 in Flüssigkeitsbiopsien aus Kollateralgefäßen vor der Gefäßrekanalisation ermöglicht eine präzise Prognoseabschätzung für verschiedene klinische Endpunkte nach der Gefäßrekanalisation“, so Kollikowski. „Diese Methode könnte den Weg für maßgeschneiderte Behandlungsstrategien für diejenigen Patientinnen und Patienten mit hohem Risiko für einen ungünstigen Verlauf ebnen, die bisher nicht frühzeitig identifiziert und behandelt werden konnten und damit ein erhebliches Potenzial für klinische Verbesserungen aufweisen.“
Validierung, Point-of-Care-Testing und revers-translationale Studien
Wie geht es weiter? Der Fokus liegt zunächst auf der Validierung der Ergebnisse in größeren Kohorten, um die Robustheit und Generalisierbarkeit der Ergebnisse zu bestätigen. Parallel dazu werden wir die Möglichkeiten untersuchen, diese Ergebnisse in eine patientennahe Labordiagnostik (engl. Point-of-Care-Testing) direkt in der Angio-OP während einer mechanischen Rekanalisation als Methode zur Echtzeit-Risikoabschätzung zu überführen. Zudem sind revers-translationale Studien geplant, um die im Menschen beobachteten Prozesse in Tiermodellen mechanistisch zu untersuchen. Mit diesem Ansatz soll eine Brücke zwischen klinischen Beobachtungen und experimentell adressierbaren pathophysiologischen Prozessen geschlagen werden, um die Entwicklung spezifischer, zeitlich und pathophysiologisch abgestimmter Therapiekonzepte für die klinische Erprobung voranzutreiben.
Weitere Informationen zur Studie liefert die Pressemitteilung, die am 22. April 2024 anlässlich der Publikation veröffentlicht wurde.