Eine Patientin kommt mit Bauchschmerzen in die Notaufnahme. Nach Verabreichung eines Schmerzmittels verbessert sich ihr Zustand nicht – im Gegenteil: Es kommen neue Symptome dazu. Ausschlag, Atembeschwerden, Kreislaufprobleme. Mit Diagnose und passender Behandlung dieses Falles waren insgesamt 136 Studierende bei der OSCE an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) im vergangenen Sommersemester konfrontiert.
OSCE steht für Objective Structured Clinical Examination, eine standardisierte klinisch-praktische Prüfung im Parcoursformat, bei der Medizinstudierende des zehnten Semesters insgesamt neun unterschiedliche Stationen absolvieren. Ziel ist eine möglichst realitätsnahe Überprüfung der Kompetenzen, die den Prüflingen als Herausforderungen im späteren klinischen Berufsalltag begegnen.
Aus den verschiedenen Prüfungsszenarien sticht eines besonders hervor. Die eingangs erwähnte junge Patientin gibt es nämlich in zwei unterschiedlichen Varianten: Während eine Hälfte der Prüflinge auf eine Schauspielpatientin trifft, stellt sich die andere der Aufgabe in der virtuellen Realität.
Das Potenzial der virtuellen Prüfung
Die Studierenden im virtuellen Szenario bekommen eine VR-Brille auf, zwei Controller in die Hand und schon betreten sie ein computergeneriertes Krankenzimmer. Hier können sie etwa mit dem Stethoskop Atemgeräusche abhören, Blut abnehmen, Laboruntersuchungen und weitere Diagnostik anfordern, Infusionen legen, Medikamente aus dem Schrank holen und verabreichen. Die Prüfungsszenarien sind Teil des VR-basierten Notfalltrainings STEP-VR, das zusammen mit einem Startup für 3D-Visualisierung (ThreeDee GmbH) entwickelt wurde. Um das Programm für Prüfungen fit zu machen, gab es zudem Fördermittel von der Stiftung Innovation in der Hochschullehre.
Für Dr. Tobias Mühling, Leiter der Arbeitsgruppe „Virtual Reality-Simulation im Medizinstudium“ sowie Lehrkliniksleitung und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Studiengangsmanagement und -entwicklung, liegen die Vorteile des Formats auf der Hand: „Uns eröffnet sich so eine völlig neue Palette an komplexen Szenarien, die man mit Schauspielpersonen und Puppen nicht simulieren kann. Einen Schauspieler kann ich nicht beatmen, kann ihm keine Medikamente geben. Auch bestimmte Symptome kann ein eigentlich gesunder Mensch ja nicht einfach vortäuschen.“
Einen weiteren wichtigen Punkt machen gerade im Prüfungskontext die Standardisierung und Vergleichbarkeit von Aufgaben und deren Umsetzung aus. Während schauspielerische Darbietungen jedes Mal variieren, ist die virtuelle Patientin für jeden Prüfungsteilnehmer absolut identisch.
Nicht zu vernachlässigen sind außerdem die Vorteile, die das Format für die Prüfenden zukünftig mit sich bringen könnte. Bei der herkömmlichen OSCE müssen Prüfende an jeder Station ausführliche Checklisten abarbeiten, um die Leistung der Studierenden zu bewerten: „Wir arbeiten an einer automatischen Auswertung, bei der das Programm die einzelnen Punkte selbst erkennt und abhakt. Die Prüfenden müssten die korrekte Erfassung nur abschließend kontrollieren und können sich ansonsten voll auf die Beobachtung und faire Leistungsbeurteilung der Studierenden konzentrieren“, so Mühling weiter.
Nur wenige Nachteile
Auch wenn das VR-Format zukünftig durchaus auf weitere Stationen anwendbar sei, stoße es an manchen Stellen an seine Grenzen: „Bei Aufgaben, die sich auf Anamnese und Kommunikation konzentrieren, ist das Format aufgrund der bisher fehlenden Möglichkeit zur Kommunikation mit Patient oder Patientin sicher weniger geeignet. Unser Fokus liegt deshalb bewusst auf Themen wie klinischer Entscheidungsfindung bei Diagnostik und Stabilisierungsmaßnahmen“, erklärt Tobias Mühling.
In seltenen Fällen komme es auch vor, dass Studierende die VR nicht gut vertragen oder dies zumindest befürchten. Die sogenannte Simulation Sickness (Simulationsschwindel) sei aber eher bei älteren Programmen ein Thema gewesen und in der Pilotstudie bei dem hier entwickelten Programm nicht aufgetreten. Bei den wenigen, die dennoch Bedenken haben, hilft Verena Schreiner als Stellvertreterin aus. Sie agiert als studentische Assistenzperson und lässt sich von den Prüflingen anleiten, die das Szenario auf 2D am Bildschirm sehen.
Schreiner arbeitet als Mitarbeiterin im Projekt wissenschaftliche Ergebnisse auf, die wichtige Erkenntnisse zur erfolgreichen Implementierung von VR-Stationen in Prüfungen liefern: „Über das letzte Jahr habe ich mich mit der Planung der Stationen, der Erstellung der Checklisten und der Auswahl der Fälle befasst“, erzählt sie. Außerdem unterstützt sie die Auswertung der Prüfungsdaten.
Würzburger Pionierarbeit
Zu diesem Thema gibt es in der Medizin aktuell noch kaum Veröffentlichungen: „Ein so systematischer Einsatz von VR in Prüfungssituationen der Medizin ist bisher nicht berichtet – gerade in Deutschland sind wir da sicherlich ganz vorne mit dabei“, berichtet Professorin Sarah König als Leiterin des Instituts für Medizinische Lehre und Ausbildungsforschung und Studiendekanin der Medizinischen Fakultät.
Auch bei den Studierenden findet das moderne Format Anklang. In der anschließenden systematischen Prüfungsevalution bewerteten sie das Szenario als realistisch und lobten inhaltliche Relevanz, Benutzung und Funktionalität.
„Die Behandlung von virtuellen Patientinnen und Patienten ist ein verpflichtender Teil des Lehrplans im sogenannten Blockpraktikum. Zusätzlich bieten wir freiwillige Trainings an, wo die Studierenden unter Anleitung verschieden Fälle bearbeiten können“, erklärt Verena Schreiner.
Die Übungsmöglichkeiten trugen dazu bei, dass sich die Studierenden mit ihren erbrachten Leistungen im virtuellen Krankenzimmer durchaus zufrieden zeigten. Für die Forschungsgruppe bleibt es derweil spannend: In der Auswertung der gewonnenen Daten muss sich jetzt zeigen, ob mit der virtuellen Station faire und reproduzierbare Prüfungsergebnisse erzielt werden können. Eine Veröffentlichung der Ergebnisse ist zum Jahresende zu erwarten.
Kontakt
Dr. Tobias Mühling, Institut für Medizinische Lehre und Ausbildungsforschung, E-Mail: Muehling_T@ukw.de
einBlick - Das Online-Magazin der Universität Würzburg vom 26.09.2023