Nach der Geburt muss sich der Körper an die Umwelt anpassen. Dabei spielen das Immunsystem und das Mikrobiom – also das bakterielle Ökosystem im Darm – entscheidende Rollen. In der internationalen Forschung verdichten sich die Hinweise, dass gerade in den ersten Monaten das Immunsystem in einer Weise zwischen Toleranz und Abwehr eingestellt wird, die für die individuelle gesundheitliche Konstitution des restlichen Lebens hochrelevant ist. Um diese Vorgänge noch besser zu verstehen, richtete die Würzburger Universitätsmedizin kürzlich die Abteilung für Translationale Pädiatrie ein. Der neue Schwerpunkt, welcher der Kinderklinik des Uniklinikums Würzburg (UKW) und dem Zentrum für Infektionsforschung der Uni Würzburg angehört, nahm im Juli 2021 seine Arbeit auf. Geleitet wird die Abteilung im Rahmen einer neugeschaffenen W3-Professur von Prof. Dr. Dorothee Viemann.
Vor ihrem Wechsel an den Main führte die Fachärztin für Kinderheilkunde- und Jugendmedizin zuletzt eine Arbeitsgruppe für Experimentelle Neonatologie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Die gebürtige Niedersächsin absolvierte ab 1987 ihr Humanmedizinstudium in Bochum, Straßburg/Frankreich und Boston/USA. Die Ausbildung zur Kinderärztin startete Dorothee Viemann 1995 an der Universitätskinderklinik Kiel, um dann drei Jahre lang am Institut für Immunologie und Transfusionsmedizin der Universität Lübeck wissenschaftliche Laborarbeit zu betreiben. Die Ausbildung zur Kinderärztin setzte sie im Jahr 2000 an der Universitätskinderklinik Münster fort. Dort erwarb sie außerdem die Zusatzspezialisierungen für die Bereiche Neonatologie, Infektiologie und Labormedizin. Im Jahr 2008 habilitierte sie im Fach Kinderheilkunde über die Rolle von Endothel-Signalnetzwerken bei Entzündungen. Drei Jahre später bewarb sich die leidenschaftliche Forscherin erfolgreich für die an der MHH ausgeschriebene Professur für Experimentelle Neonatologie.
Inspiriert durch Beobachtungen am Krankenbett
„Wissenschaftlich beschäftige ich mich mit den Ursachen und Therapiemöglichkeiten der Infektanfälligkeit und immunologischen Schwächen von Neu- und Frühgeborenen“, beschreibt Prof. Viemann und fährt fort: „Dabei geht es zum Beispiel darum, die Reifungsvorgänge im angeborenen Immunsystem nach der Geburt und die molekularen Mechanismen der Toleranzentwicklung aufzuklären.“ Hierbei verfolgte und verfolgt sie – meist inspiriert durch ihre Beobachtungen als Ärztin am Krankenbett – gerne auch Thesen jenseits der verbreiteten Lehrmeinungen. „Solange es offene, mir nicht verständliche Punkte gibt, hört das Nachfragen in mir einfach nicht auf“, beschreibt sie ihren Antrieb zur wissenschaftlichen Arbeit.
Bei dem Versuch, ihre Überzeugungen zu beweisen oder zu widerlegen, kam sie immer wieder an Punkte, an denen sie mit ihrem ärztlichen Wissen nicht weiterkam. „Deshalb habe ich mir in den vergangenen Jahrzehnten im Eigenstudium so einiges an molekularbiologischem Know-how angeeignet“, berichtet Prof. Viemann. Diese konsequente Haltung fordert sie übrigens auch von ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: „Alle, die in meinem Labor arbeiten, müssen die Methoden nicht nur anwenden können, sondern intellektuell auch vollständig durchdrungen haben. Nur dann sind sie nämlich in der Lage, eine Lösung zu entwickeln, wenn mal etwas nicht richtig läuft.“
Forscherin mit internationaler Reputation
Mit ihrer tiefschürfenden Herangehensweise gelang es Dorothee Viemann, sich eine weithin sichtbare Reputation aufzubauen. So arbeitet sie beispielsweise in dem von der MHH geleiteten Exzellenzcluster RESIST in zwei Einzelprojekten des Bereichs „Immunsystem“ mit. Außerdem wird sie regelmäßig als Referentin zu den US-amerikanischen Keystone-Symposien eingeladen, was in der Fachwelt als internationales Benchmark für die Relevanz der jeweiligen Forschungsthemen gilt.
Die Würzburger Professur mit eigenem Lehrstuhl sowie den in Aussicht gestellten Personal- und Sachressourcen sieht Prof. Viemann als hervorragende Chance zur Weiterentwicklung. Sie betont: „Die hier von der Medizinischen Fakultät gefundene, deutschlandweit wohl einzigartige Konstellation ist ein deutliches Bekenntnis zur Translation.“
Zu den Schlüsselfragen auf ihrer Forschungsagenda gehören: Welche körpereigenen Faktoren und welche Faktoren aus der Umwelt sind förderlich und trainieren die biologischen Systeme eines Kindes auf dienliche Art und Weise? Welche äußeren Faktoren oder anlagebedingten Fehlprogrammierungen beeinträchtigen das Wachstum und Reifung eines jungen Menschen? Bevor sie ihre Suche nach Antworten am Standort Würzburg allerdings fortsetzen kann, muss Prof. Viemann, die im Universitätsgebäude E7 am Zinklesweg untergebracht ist, in den kommenden Monaten erst noch ein Team aufbauen und für die benötigte technische Laborausstattung sorgen.
„Schon nach kurzer Zeit vor Ort habe ich erkannt, dass hier in Würzburg ein Klinikcampus mit hoher Dynamik besteht“, freut sich die Professorin und präzisiert: „An hiesigen Einrichtungen wie dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung oder bei der Max-Planck-Forschungsgruppe des Instituts für Systemimmunologie gibt es viele Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, von denen ich manche schon über andere Wege kenne. Es formt sich hier gerade eine Community, mit der ohne lange Anbahnung unkompliziert gemeinsame Forschungsprojekte aufgesetzt werden können.“
Geburtskohorte als eines der Großziele
Ein besonderer Wunsch für die Zukunft, den Prof. Viemann gemeinsam mit Prof. Christoph Härtel, dem Direktor der Kinderklinik des UKW, hegt, ist der Aufbau einer großen unterfränkischen Geburtskohorte in enger interdisziplinärer Zusammenarbeit mit interessierten Expertinnen und Experten am Standort. Dabei sollen die gesundheitsrelevanten Entwicklungen bei Hunderten von Neugeborenen und deren Familien von Anfang an begleitet werden. Als Werkzeug dafür wäre zum Beispiel eine Smartphone-App vorstellbar, bei der die Eltern die Krankheitszeiten von Kindern eingeben können, welche Antibiotika verschrieben wurden, wann Allergien auftraten und ähnliches mehr. „Wenn es die finanziellen Möglichkeiten erlauben, würde ich die entsprechenden Daten gerne bis über das 16. Lebensjahr hinaus sammeln, da auch in der Pubertät im Immunsystems nochmals vieles neugeordnet und reprogrammiert wird“, sagt die Ärztin und unterstreicht: „Mit diesem Projekt würden wir die Basis für wichtige zukünftige Erkenntnisse legen – eine solche Kohorte wäre gerade für die kommenden Generationen von Forscherinnen und Forscher ein unfassbarer Schatz!“
Enthusiasmus in der Lehre weitergeben
Dieses langfristige Denken bestimmt auch die Einstellung von Dorothee Viemann zur Lehre. Sie schildert: „Wenn man in meinem Alter etwas Bleibendes hinterlassen will, dann geht es hauptsächlich darum, die nächste Generation an Ärztinnen und Ärzten zu formen und zu fördern.“ Sie plant, sich bei einem breiten Spektrum an Ausbildungsstufen zu engagieren – von Studierenden bis zu fortgeschrittenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. „Dabei würde ich gerne den Blick des Clinical Scientist schärfen. Ich war und bin für meine Sache enthusiastisch – und es würde mich freuen, wenn es gelänge, dies auch weiterzugeben“, sagt die Professorin.
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