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Wenn das Herz vorzeitig altert

Wissenschaftlerinnen aus dem Deutschen Zentrum für Herzinsuffizienz decken grundlegende Mechanismen auf, wie genetische Veränderungen in Kernhüllenproteinen zu Herzmuskelerkrankungen führen und welche Rolle gestörte Reparaturmechanismen der Zellkernhülle bei der vorzeitigen Zellalterung sowie bei der Entwicklung von Fibrose bei Kardiomyopathien spielen können.

Ruping Chen sitzt im DZHI am Mikroskop.
Die Biomedizinerin Ruping Chen (PhD) hat sich auf die Erforschung von Alterungsprozessen spezialisiert. Im Deutschen Zentrum für Herzinsuffizienz (DZHI) untersucht sie die vorzeitige Alterung des Herzens und wie diese Kardiomyopathien verursacht. Konkret möchte sie die Mechanismen von LEMD2-Mutationen besser verstehen, um zukünftig entsprechende therapeutische Ansätze im Gesamtkomplex dieser Proteine zu finden. © Kirstin Linkamp / UKW
Die Abbildung zeigt links die Aufnahme des runden Kerns einer gesunden Herzmuskelzelle und rechts den Zellkern eines Herzens mit LEMD2-Mutation, an denen die Einstülpungen deutlich zu erkennen sind.
Elektronenmikroskopische Aufnahmen der Zellkerne von Herzmuskelzellen eines wildtypischen Mausherzen (links) sowie einem Herzen mit der LEMD2 Mutation (rechts). Die Einstülpungen der Zellkernmembran sind rechts deutlich sichtbar. © Ruping Chen / UKW

Wie können wir das Altern verlangsamen? Und wie lassen sich typische Alterserkrankungen verhindern? Einen Baustein zur Erkenntnis von Alterungsprozessen im Herzen haben jetzt Ruping Chen und Brenda Gerull aus dem Deutschen Zentrum für Herzinsuffizienz (DZHI) am Uniklinikum Würzburg geliefert. Die Wissenschaftlerinnen forschen schon seit längerem an Mutationen im Kernmembranprotein LEMD2. Genetische Veränderungen im LEMD2-Protein führen ähnlich wie Mutationen im Lamin-Protein zu vorzeitigen Alterungskrankheiten, die, wenn sie das Herz betreffen, bereits in jungen Jahren progressive Herzschwäche und schwere Herzrhythmusstörungen verursachen können. Spezifische Therapien gibt es bislang nicht.

Mutation führt zu Einstülpungen der Zellkernmembran

Um die komplexen Mechanismen aufzudecken, die das Herz durch die Genmutation früher altern lassen, hat Ruping Chen die humane LEMD2-Mutation namens p.L13R sowohl im Maus- als auch im Zellkulturmodell näher untersucht. Erste molekulare und zelluläre Veränderungen am Herzen der Mäuse konnte die Biomedizinerin schon nach wenigen Wochen beobachten. Nach neun Monaten haben die Mäuse schließlich einen klinischen Phänotyp entwickelt, der dem bei jungen Menschen, die diese Mutation tragen, sehr ähnlich ist: Die zunehmende Steifheit begünstigt den fibrotischen Umbau und führt in der Konsequenz zu Herzschwäche und schweren Arrhythmien.

Doch warum altert das Herz durch die Mutation vorzeitig? „Wir haben in elektronenmikroskopischen Aufnahmen des Zellkerns gesehen, dass die Mutation zu Einstülpungen der eigentlich rundlichen Zellkernmembran führt, was wiederum die Funktionen des Zellkerns stört. Es kommt zu Rupturen in der Kernhülle und zur Erschöpfung der zelleigenen Reparaturmechanismen. Die Zellkernmembran wird löchrig und damit kommt es zu DNA Schäden. Die Zelle kann ihre natürlichen Reparaturfunktionen nicht mehr vollständig gewährleisten“, erklärt Ruping Chen.

Gestörter Reparaturmechanismus begünstigt vorzeitige Zellalterung

Zum Hintergrund: Schätzungen zufolge wird die DNA in jeder Zelle unseres Körpers täglich bis zu einer Million Mal geschädigt. Der gesunde Mensch verfügt jedoch über einen guten Reparaturmechanismus, denn unser Genom enthält die Anleitung für sämtliche zellulären Prozesse im Körper, auch für Reparaturen. Das heißt, unsere DNA erkennt die Schäden und repariert sie. Mit zunehmenden Alter, durch Umwelteinflüsse und ungesunde Lebensweisen lassen diese Funktionen jedoch nach, die Schäden mutieren in unserem Genom, der Altersprozess wird beschleunigt, es kommt zu Krankheiten.

„Wir konnten mit unseren Untersuchungen nun Signalwege postulieren, deren Aktivierung eine vorzeitige Zellalterung und damit verbunden Entzündung und Fibrose fördert“, resümiert Brenda Gerull, Leiterin des Departements Kardiovaskuläre Genetik am DZHI. „Letztlich erweitert unsere Arbeit zum LEMD2 mechanistische Erkenntnisse, die auch bei anderen Kardiomyopathien aber auch im natürlichen Alterungsprozess eine Rolle spielen könnten.“ Die Studie, die in Kooperation mit der Medizinischen Klinik I am Uniklinikum Würzburg und dem Institut für Anatomie und Zellbiologie der Universität Würzburg durchgeführt wurde, hat jetzt das Fachjournal Circulation Research veröffentlicht: https://doi.org/10.1161/CIRCRESAHA.122.321929 . Zur Publikation gibt es in der Ausgabe vom 20. Januar 2023 (Volume 132, Issue 2) zudem ein Editorial: https://doi.org/10.1161/CIRCRESAHA.122.322352

Die Untersuchungen von Ruping Chen wurden von der Deutschen Stiftung für Herzforschung und der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie finanziell unterstützt, Brenda Gerull erhielt Förderungen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des SFB 1525 und des Interdisziplinären Zentrums für Klinische Forschung.

Möglichkeiten für therapeutische Interventionen

In den nächsten Schritten möchten die Wissenschaftlerinnen verschiedene Möglichkeiten der therapeutischen Interventionen testen und hierbei unter anderem ein humanes Modell nutzen, so genannte induzierte pluripotente Stammzellen. Ferner sollen die Aktivierung der Bindegewebszellen, der so genannten Fibroblasten, näher untersucht werden, da sie neben den Herzmuskelzellen, den so genannten Kardiomyozyten eine wichtige Rolle beim Fortschreiten der Erkrankung spielen.

#WomenInScience

Das Porträt über Ruping Chen in unserer Serie #WomenInScience liefert weitere Informationen über die Wissenschaftlerin, die gerade ihren zweiten Sohn bekommen hat: https://www.ukw.de/forschung-lehre/women-in-science/ruping-chen/ Ein Special zum Muttertag zur Doktormutter Brenda Gerull ist im Mai letzten Jahres erschienen: https://www.ukw.de/forschung-lehre/women-in-science/brenda-gerull/

Ruping Chen sitzt im DZHI am Mikroskop.
Die Biomedizinerin Ruping Chen (PhD) hat sich auf die Erforschung von Alterungsprozessen spezialisiert. Im Deutschen Zentrum für Herzinsuffizienz (DZHI) untersucht sie die vorzeitige Alterung des Herzens und wie diese Kardiomyopathien verursacht. Konkret möchte sie die Mechanismen von LEMD2-Mutationen besser verstehen, um zukünftig entsprechende therapeutische Ansätze im Gesamtkomplex dieser Proteine zu finden. © Kirstin Linkamp / UKW
Die Abbildung zeigt links die Aufnahme des runden Kerns einer gesunden Herzmuskelzelle und rechts den Zellkern eines Herzens mit LEMD2-Mutation, an denen die Einstülpungen deutlich zu erkennen sind.
Elektronenmikroskopische Aufnahmen der Zellkerne von Herzmuskelzellen eines wildtypischen Mausherzen (links) sowie einem Herzen mit der LEMD2 Mutation (rechts). Die Einstülpungen der Zellkernmembran sind rechts deutlich sichtbar. © Ruping Chen / UKW

Neuartige Kabel-Klammer-Implantate bei Beckenverletzungen

Beckenbrüche gehören zwar zu den eher seltenen Frakturen, können aber lebensgefährlich sein. Und trotz moderner medizinischer Implantate ist die operative Behandlung von Verletzungen des vorderen Beckenrings, insbesondere der Symphyse, immer noch eine Herausforderung in der Unfallchirurgie. In vielen Fällen kommen Stahlplatten und Schrauben zum Einsatz, die zwar gut geeignet sind zur Knochenbruchbehandlung aber Nachteile bei der Versorgung der Symphyse aufweisen, welche eigentlich eine flexible Faserknorpelverbindung ist. Ein interdisziplinäres Team des Uniklinikums Würzburg und regionalen Partnern hat im Rahmen eines DFG-geförderten Forschungsprojekts nun mittels 3D-Druck alternative Kabel-Klammer-Implantate entwickelt, die diese Defizite möglicherweise ausgleichen können.

Neuartiges Kabel-Klammer-Implantat bei Open-Book-Verletzungen
Unfallchirurgen des Uniklinikums Würzburg haben mit internen und externen Partnern aus der Region innovative Kabel-Klammer-Implantate zur Behandlung von Verletzungen des vorderen Beckenrings entwickelt. © UKW
Die Titan-Klammern mit einer Führungsstruktur für das geflochtene Stahlseil werden fest am Knochen mit zwei Schrauben fixiert. Da sie fest im Implantat fassen und nicht im Knochen, können sie nicht ausbrechen. © UKW

Unfallbedingte Beckenverletzungen können alle Menschen jeden Alters treffen. Die Art der Verletzung unterscheidet sich jedoch durch den Unfallmechanismus aber auch durch das Alter der jeweiligen Person. Der junge Motorradfahrer nach Frontalkollision, die agile Seniorin nach Sturz vom E-Bike oder der Hochbetagte, der beim Gehen gestolpert ist, sind hierbei typische Patientinnen und Patienten mit teils unterschiedlichsten Verletzungsmustern. Allen gemein ist, dass eine von vorne auf das Becken einwirkende Kraft eine Symphysensprengung verursachen kann. Hierbei zerreißt die nicht-knöcherne Faserknorpelverbindung am vorderen Beckenring und es kommt zur sogenannten Open-Book-Verletzung des Beckens. Das Becken klafft quasi wie ein geöffnetes Buch auf. Chirurgisch muss dieser Spalt geschlossen werden. Der Erfolg der konventionellen Behandlung mit Symphysenplatte und Schrauben hängt jedoch oft vom Alter des Unfallopfers ab. Denn mit steigendem Alter sinkt die Knochenqualität und damit die Stabilität der Schrauben.

Hohe Versagensrate bei herkömmlichen Implantaten

Privatdozent Dr. Martin Jordan, geschäftsführender Oberarzt in der Klinik und Poliklinik für Unfall-, Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie am Uniklinikum Würzburg, erklärt die Problematik der Symphysenrupturen, die eben kein klassischer Knochenbruch ist, jedoch weltweit wie ein solcher behandelt wird: „Wir stabilisieren die eigentlich flexible Symphyse mit einer rigiden Stahlplatte und Schrauben. Da es in diesem knorpeligen Teil des Beckens jedoch keine knöcherne Heilung gibt, sondern nur eine Vernarbung, sind kontinuierliche Mikrobewegungen nicht zu vermeiden.“ Eine unbedenkliche Lockerung der Symphysenplatte sei bei nahezu allen Patientinnen und Patienten zu beobachten. Wenn zusätzliche Faktoren für eine schlechte Implantatverankerung hinzukommen, wie zum Beispiel eine reduzierte Knochenqualität, dann könne es jedoch sehr zügig zu einem nachteiligen Implantatversagen kommen. Und weil die Lebensqualität zunehmend steigt, ältere Menschen also immer aktiver werden, nehme dementsprechend die Zahl der Beckenverletzungen mit reduzierter Knochenqualität stetig zu, wodurch das Thema eine zunehmende Relevanz habe.

Bei einigen Patientinnen und Patienten mit schlechter Knochendichte haben die Chirurgen bereits zur Verstärkung der Platte als Augmentation ein Stahlseil um die Schambeinäste gelegt. Diese so genannte Cerclage habe zwar eine gute zusätzliche Stabilität, könne aber unter Umständen in den Knochen einschneiden, wenn dieser ohnehin altersbedingt geschwächt sei.

Neue Prototypen: Titan-Klammern und Stahlseil stabilisieren Symphyse

Was kann hier verbessert werden? Dieser Frage gingen Martin Jordan und Professor Dr. Rainer Meffert, Direktor der Chirurgie II am UKW, gemeinsam mit Headmade Materials, einem regionalem Deep Tech-Unternehmen in den Bereichen 3D-Druck und Pulvermetallurgie, nach. Benötigt wird eine feste Verankerung eng am Knochen, eine breite Auflagefläche, eine stabile Führung des Kabels und dennoch wenig Implantatmaterial um umliegende anatomische Strukturen wie etwa die Blase nicht zu irritieren. Entstanden sind zwei Prototypen, die so genannten Kabel-Klammer-Implantate. „Die Titan-Klammern mit einer Führungsstruktur für das geflochtene Stahlseil werden fest am Knochen fixiert, mit zwei Schrauben, die nicht ausbrechen können, da sie fest im Implantat fassen. Durch die Kompression der Schambeinäste soll die Symphyse so idealerweise dauerhaft und komplikationsärmer adaptiert werden“, erklärt Martin Jordan das Prinzip.

Äquivalente Stabilität zu herkömmlichen Verfahren – kein Versagen

Für die Entwicklung und Testung der Prototypen im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts wurde das Know-how von weiteren Disziplinen aus der Würzburger Universitätsmedizin und der Regiopolregion Mainfranken herangezogen: Die Forschungsabteilung Additive Fertigungstechniken des Süddeutschen Kunststoffzentrums unterstützte bei der Projektgründung. Headmade Materials brachte sich ein bei der Fertigung der komplexen Kabel-Klammer-Implantate mithilfe eines innovativen metallbasierten 3D-Druck-Verfahrens namens ColdMetalFusion. Die Testung der Implantate erfolgte im Biomechanik-Labor der Unfallchirurgie unter der Leitung von Prof. Stefanie Hölscher-Doht. Ergebnis: Die Kabel-Klammer-Implantate wiesen sowohl bei Kunstknochen als auch bei den Knochen von Körperspendern aus der Anatomie eine äquivalente Stabilität zu herkömmlichen Verfahren auf. „Sie sind nicht schlechter und bisher nicht wesentlich besser als die Platten, aber wir haben hier nicht das Risiko des frühzeitigen Implantatversagens“, fasst Martin Jordan zusammen.

Neuer operativer Zugangsweg zur Implantation

Die Erprobung eines bisher nicht verwendeten operativen Zugangswegs zur Implantation wurde in Kooperation mit dem Institut für Anatomie der Julius-Maximilians-Universität unter der Leitung von Prof. Süleyman Ergün durchgeführt. Die Passgenauigkeit der Kabel-Klammer-Implantate hat Prof. Thorsten Bley mit seinem Team im Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie am UKW im neuen hochmodernen Photonenzählenden Computertomografen (CT) ausgewertet. Noch eine Vision, aber durchaus ein Ziel sei es, eines Tages anhand der CT-Datensätze der Patientinnen und Patienten vom Unfalltag passgenaue personalisierte Klammern zu drucken.

Modifikation und klinische Evaluierung

Ein finaler Rückschluss auf eine klinische Überlegenheit ergibt sich aus den bisher gesammelten Daten zwar noch nicht. Dennoch besteht die Möglichkeit eines klinischen Nutzens, weshalb eine internationale Patentanmeldung (PCT) mit Unterstützung des Servicezentrums Forschung und Technologietransfer und der Bayerischen Patentallianz eingeleitet wurde. „Ich freue mich sehr, dass wir durch diese enge und hervorragende Kooperation vor Ort die Vorteile, Limitationen und Risiken bei der Implantation ideal herausarbeiten konnten“, sagt Martin Jordan. In den nächsten Schritten sollen die Implantate modifiziert werden. Außerdem soll die Kooperation um einen Industriepartner zur gemeinsamen Entwicklungsarbeit erweitert werden.

Das mustergültige Beispiel translationaler Forschung wurde jetzt im renommierten Fachjournal Nature Communications Medicine publiziert: https://doi.org/10.1038/s43856-022-00227-z

 

Neuartiges Kabel-Klammer-Implantat bei Open-Book-Verletzungen
Unfallchirurgen des Uniklinikums Würzburg haben mit internen und externen Partnern aus der Region innovative Kabel-Klammer-Implantate zur Behandlung von Verletzungen des vorderen Beckenrings entwickelt. © UKW
Die Titan-Klammern mit einer Führungsstruktur für das geflochtene Stahlseil werden fest am Knochen mit zwei Schrauben fixiert. Da sie fest im Implantat fassen und nicht im Knochen, können sie nicht ausbrechen. © UKW

Wie lassen sich Risiken nach Herz-OPs minimieren?

In einer groß angelegten Studie hat ein deutsch-kanadisches Netzwerk unter der Leitung von Christian Stoppe vom Uniklinikum Würzburg überprüft, ob die hochdosierte Gabe des Spurenelements Selen die Sterblichkeit und Krankenhausaufenthalte nach komplexen herzchirurgischen Eingriffen verringern kann.

OP-Team bei einem chirurgischen Eingriff
Die Zahl der herzchirurgischen Eingriffe steigt weltweit stetig an. Aufgrund des demografischen Wandels und der zunehmenden Begleiterkrankungen, werden die Herzoperationen jedoch oft komplexer – bei jedem fünften Eingriff kommt es zu Komplikationen. Christian Stoppe vom Uniklinikum Würzburg hat mit einem internationalen Team geprüft, ob Selen die Risiken reduzieren kann. © Daniel Peter / UKW

Wie lassen sich Komplikationen wie zum Beispiel Multiorganversagen nach komplexen Herzoperationen reduzieren? Eine Hoffnung lag bislang im Spurenelement Selen, da es als essentieller Kofaktor vieler anti-entzündlich wirksamer Enzyme die körpereigenen Abwehrmechanismen stärken kann. Mehrere kleinere Studien hatten in den vergangenen Jahren auf signifikante klinische Vorteile einer Selen-Supplementierung bei Patientinnen und -Patienten mit komplexen herzchirurgischen Eingriffen hingewiesen. Doch die multizentrische, randomisierte, doppelt verblindete und placebo-kontrollierte sustainCSX-Studie hat nun gezeigt, dass die intravenöse Gabe hochdosierten Selens vor, während und nach der Operation nicht zu einer signifikanten Verringerung der Mortalität und Morbidität führt. Die Studie wurde jetzt im Journal der American Medical Association JAMA Surgery veröffentlicht.

Bei jedem fünften Eingriff kommt es zu Komplikationen

Initiator und Erstautor der Studie, Prof. Dr. Christian Stoppe von der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie am Uniklinikum Würzburg erläutert die Hintergründe des Forschungsprojekts: „Die Zahl an Herzoperationen steigt jedes Jahr weltweit weiter an, trotz Zunahme von minimal-invasiven Verfahren in der Kardiologie. Das hat nicht nur demografische Gründe, sondern liegt auch an den verbesserten Operationsmethoden, schonenderen Narkosen und einer verbesserten sich anschließenden intensivmedizinischen Behandlung. Aufgrund des allgemein steigenden Durchschnittsalters der Patientinnen und Patienten und der zunehmenden Begleiterkrankungen, werden die herzchirurgischen Eingriffe jedoch oft komplexer und länger, wodurch die Gefahr für lebensbedrohliche Komplikationen steigt. So entwickeln sich oft postoperative Organdysfunktionen, die umfassende intensivmedizinische Maßnahmen erfordern.“

Antioxidativen Stress mit Gabe vom hochdosiertem Selen reduzieren

In einer vorhergehenden Studie hatten Christian Stoppe und seine internationalen Kollegen bereits herausgefunden, dass Herzoperationen unter Verwendung einer sogenannten Herz-Lungen-Maschine, wenn also bei einer Operation am offenen Herzen das Blut über ein Kanülen- und Schlauchsystem den Körper verlässt, mit Sauerstoff angereichert und wieder zurückgepumpt wird, zu einem Rückgang von antioxidativen Spurenelementen führen. Es entsteht oxidativer Stress, der eine Entzündungsreaktion auslöst, die sich wiederum negativ auf die Funktion der Blutgefäße und Organsysteme auswirkt. „In der Beobachtungsstudie konnten wir niedrige Selenspiegel mit postoperativen Multiorganversagen in Verbindung bringen“, berichtet Christian Stoppe. „In einer nachfolgenden Anwendungsbeobachtung zeigten sich klinische Vorteile einer Selen-Supplementierung bei herzchirurgischen Patienten.“ Das Spurenelement trägt zu entzündungshemmenden und immunstimmulierenden Prozessen im Körper bei.

Um die Selen-Therapie in die Leitlinien aufnehmen zu lassen, fehlte jedoch ein höheres Maß an Evidenz. Daher hat Christian Stoppe gemeinsam mit Prof. Dr. Daren K. Heyland von der Clinical Evaluation Research Unit am kanadischen Kingston General Hospital die qualitativ hochwertige sustainCSX-Studie ins Leben gerufen. An 23 Standorten in Deutschland und Kanada wurden insgesamt 1.394 Herz-Patientinnen und -Patienten, die nach dem EuroSCORE II ein erhöhtes Sterblichkeitsrisiko aufzeigten (> 5 Prozent) oder bei denen mehrere chirurgische Eingriffe geplant waren untersucht. Nach dem Zufallsprinzip erhielt die Hälfte von ihnen 2.000 Mikrogramm Natriumselenit vor der Herz-Operation, gefolgt von 2.000 danach und weitere 1.000 Mikrogramm Natriumselenit täglich auf der Intensivstation für maximal 10 Tage. Die Vergleichsgruppe erhielt ein Placebo.

sustainCSX: Selen-Supplementierung hat keinen Einfluss auf die Sterblichkeit

Ergebnis: Die hochdosierte Selen-Supplementierung konnte die Entwicklung von Organfunktionsstörungen nicht signifikant reduzieren. 4,2 Prozent der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer verstarben innerhalb von 30 Tagen nach der Operation in der Selengruppe, 5 Prozent in der Placebogruppe. „Eine Selen-Supplementierung kann aber möglicherweise die Notwendigkeit zur Wiederaufnahme auf eine Intensivstation verringern“, gibt Christian Stoppe zu Bedenken. „Ebenso bleibt aufgrund des technischen Fortschritts und der stetigen Verbesserungen im Bereich der Herzchirurgie offen, ob sich zukünftige Interventionen nur auf Patienten mit erhöhtem Risikoprofil fokussieren sollen. In der klinischen Praxis wird es immer wichtiger, Strategie zu entwickeln, um Patienten mit erhöhter Komplikationsgefahr frühzeitig zu identifizieren und nur ihnen etwaige Nährstoffe zu verabreichen.“

modifyCSX: Mit früher Gabe von Fischöl Immunsystem stärken

Der Fokus des aktuellen Forschungsvorhabens liegt nun auf einer frühzeitigeren Stärkung des Immunsystems. Ziel ist es so wie früh wie möglich mit einer optimierten Therapie zu beginnen. „Da viele Patienten erst einen Tag vor der Operation stationär aufgenommen werden, müssen wir dieses Fenster maximal nutzen“, erklärt Christian Stoppe. In der neuen modifyCSX Studie will das internationale Team die intravenöse Gabe von Fischöl 12 bis 24 Stunden vor der Operation testen. Ziel dabei ist es, neben der Stärkung des Immunsystems die Entstehung von postoperativen Herzrhythmusstörungen zu reduzieren, welches die postoperative Erholung entsprechender Patientinnen und Patienten signifikant verbessert.

Partner und Förderer

In Deutschland waren neben dem Universitätsklinikum Würzburg die Universitätskliniken Aachen, Berlin, Bonn, Frankfurt, Freiburg, Giessen, Köln, Mainz, München, Münster, Oldenburg und Schleswig-Holstein beteiligt. Finanziell unterstützt wurde die Studie vom Canadian Institute of Health Research und der Lotte & John Hecht Memorial Foundation.

Studie: Christian Stoppe; Bernard McDonald: Patrick Meybohm; Kenneth B. Christopher; Stephen Fremes; Richard Whitlock; Siamak Mohammadi; Dimitri Kalavrouziotis; Gunnar Elke; Rolf Rossaint; Philipp Helmer; Kai Zacharowski; Ulf Günther; Matteo Parotto; Bernd Niemann; Andreas Böning; C. David Mazer; Philip M. Jones; Marion Ferner; Yoan Lamarche; Francois Lamontagne; Oliver J. Liakopoulos; Matthew Cameron; Matthias Müller; Alexander Zarbock; Maria Wittmann; Andreas Goetzenich; Erich Kilger; Lutz Schomburg; Andrew G. Day; Daren K. Heyland; for the SUSTAIN CSX Study Collaborators. Effect of High-Dose Selenium on Postoperative Organ Dysfunction and Mortality in Cardiac Surgery PatientsThe SUSTAIN CSX Randomized Clinical Trial. JAMA Surgery Published online January 11, 2023. doi:10.1001/jamasurg.2022.6855

Vorhergehende Studien:

Stoppe C, Spillner J, Rossaint R, Coburn M, Schälte G, Wildenhues A, Marx G, Rex S. Selenium blood concentrations in patients undergoing elective cardiac surgery and receiving perioperative sodium selenite. Nutrition. 2013 Jan;29(1):158-65. doi: 10.1016/j.nut.2012.05.013. Epub 2012 Sep 23. PMID: 23010420.

Stoppe C, Schälte G, Rossaint R, Coburn M, Graf B, Spillner J, Marx G, Rex S. The intraoperative decrease of selenium is associated with the postoperative development of multiorgan dysfunction in cardiac surgical patients. Crit Care Med. 2011 Aug;39(8):1879-85. doi: 10.1097/CCM.0b013e3182190d48. PMID: 21460705.

OP-Team bei einem chirurgischen Eingriff
Die Zahl der herzchirurgischen Eingriffe steigt weltweit stetig an. Aufgrund des demografischen Wandels und der zunehmenden Begleiterkrankungen, werden die Herzoperationen jedoch oft komplexer – bei jedem fünften Eingriff kommt es zu Komplikationen. Christian Stoppe vom Uniklinikum Würzburg hat mit einem internationalen Team geprüft, ob Selen die Risiken reduzieren kann. © Daniel Peter / UKW