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SARS-CoV-2-Antigenschnelltests unter der Lupe

Wie Impfungen und Virusvarianten die Ergebnisse beeinflussen

Einzigartige Studie des Universitätsklinikums Würzburg untersucht die Leistungsfähigkeit von über 78.000 durchgeführten SARS-CoV-2-Antigenschnelltests parallel zur PCR-Referenzdiagnostik über die COVID-19-Pandemie hinweg, von November 2020 bis Juni 2023, und analysiert die interagierenden Effekte der Omikron-Virusvariante und der COVID-19-Impfung.

 

Das Bild zeigt eine Hand mit blauem Handschuhe, welche die Pufferlösung auf den Teststreifen tropfen lässt.
In der Pandemie wurden am Uniklinikum Würzburg von November 2020 bis Juni 2023 über 100.000 SARS-CoV-2-Antigenschnelltests durchgeführt, deren Testperformance PD Dr. Manuel Krone und Isabell Wagenhäuser gemeinsam im Pandemieverlauf verfolgt und fortlaufend ausgewertet haben. © Angie Wolf / UKW
Collage der Porträts von Isabell Wagenhäuser und Manuel Krone
PD Dr. Manuel Krone und Isabell Wagenhäuser haben im Journal eBioMedicine ihre abschließende Analyse der weltweit größten Antigenschnellteststudie veröffentlicht, welche die gesamte COVID-19-Pandemie und den Einfluss der Omikron-VOC und der COVID-19-Impfung einschließt. © Collage / UKW

Die im Journal eBioMedicine veröffentlichten Forschungsergebnisse zeigen, dass die Sensitivität der Antigenschnelltests über die Pandemie hinweg rückläufig war. Nicht nur die Viruslast im Rachenraum, sondern auch die COVID-19-Symptomatik der getesteten Person wie Fieber oder Husten beeinflusste die Testleistung. Da bei geimpften Personen seltener Symptome auftraten, war bei ihnen die Testempfindlichkeit geringer. Trotz dieser Einschränkungen erweisen sich Antigenschnelltests nach wie vor als nützliches Instrument zur schnellen Erkennung einer SARS-CoV-2-Infektionen bei symptomatischen Personen und eine wichtige Ergänzung zu PCR-Tests. 

Ein Interview mit der Erstautorin der Studie Isabell Wagenhäuser und dem Letztautor PD Dr. Manuel Krone aus der Zentralen Einrichtung für Krankenhaushygiene und Antimicrobial Stewardship des Universitätsklinikums Würzburgs (UKW).

Wann ist ein Antigenschnelltest sinnvoll?

Manuel Krone: Wenn man Symptome einer Atemwegsinfektion hat, also Husten, Halsschmerzen, Schnupfen oder Fieber, und wissen möchte, ob man SARS-CoV-2 hat, dann funktionieren die Schnelltests unabhängig von Impfstoff und SARS-CoV-2-Variante recht gut. Letztlich stellt sich aber natürlich die Frage: Was hat man davon, wenn man weiß, ob man COVID-19 hat oder eine durch ein anderes Virus ausgelöste Infektion? 

Wenn man weiß, dass man Corona hat, ist man vielleicht vorsichtiger, setzt bei der Arbeit oder beim Einkaufen einen Mundschutz auf, um sein Umfeld zu schützen.

Manuel Krone: COVID-19 ist leichter übertragbar als eine Grippe oder andere Atemwegsinfektionen. Trotzdem sollte man generell immer einen Mundschutz tragen, wenn man erkältet ist und mit gefährdeten Menschen in Kontakt kommt. In der Klinik propagieren wir keine Tests mehr, aber wir sagen ganz klar: Wer Atemwegssymptome hat und sich arbeitsfähig fühlt, sollte mit Maske arbeiten. 

Sie haben eine der größten, wenn nicht sogar die größte Studie zu Antigenschnelltests durchgeführt. Was ist das Besondere daran? 

Isabell Wagenhäuser: Es gibt einzelne Studien, die mehr Tests umfassen als unsere, aber sie haben andere Fragestellungen und einen kürzeren Erhebungszeitraum. Mit unserer Studie wurde als bisher einzige Studie die gesamte Pandemie betrachtet, vor allem auch wie sich die Testperformance der Antigenschnelltests unter welchen, auch neu auftretenden Einflussfaktoren wie die COVID-19-Impfung entwickelt haben.

Konkret haben verschiedene Kliniken des Uniklinikums Würzburg zusammen mit den Instituten für Hygiene und Mikrobiologie sowie für Virologie und Immunbiologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg von November 2020 bis Juni 2023 insgesamt 78.000 valide Antigenschnelltests an Patienten, deren Begleitpersonen oder an Mitarbeitenden durchgeführt. Gemeinsam mit jedem Antigenschnelltest wurde auch ein Abstrich für die PCR-Diagnostik als vergleichende Referenz entnommen. Davon ausgehend wurden Sensitivität und Spezifität von den verwendeten Antigenschnelltests mit der als Goldstandard geltenden PCR-Diagnostik verglichen und die Auswirkungen von Alter, Geschlecht, Impfung, Virusvarianten, der Viruslast im Rachenraum zum Zeitpunkt des Abstrichs sowie die Symptomatik auf die Testperformance analysiert. In dieser klinischen Screening-Anwendung mit den Faktoren und dieser hohen Qualität gibt es keine vergleichbare Studie. 

Die Studie ist einzigartig, aber wie relevant ist sie?

Manuel Krone: Unsere Studie ist sehr wichtig, um auch für den Nachweis anderer Erreger mit Antigenschnelltests die Stärken und Schwächen der Testmethodik besser zu verstehen. Zum Beispiel, ob bei einer saisonalen Häufung von akuten respiratorischen Infektionen die Ressource Schnelltest gezielt und bewusst eingesetzt werden soll oder nicht. 

Wie können die Bevölkerung, Politik, Wissenschaft und Industrie von den Ergebnissen profitieren?

Manuel Krone: Wir alle wissen jetzt, dass die Schnelltests bei Symptomen unabhängig vom Impfstatus und der Omikron-Variante aussagekräftig sind. Für die Politik ist die Studie eher retrospektiv. Denn wir zeigen, dass die Rolle von Antigenschnelltests in Screening-Programmen für asymptomatische Personen kritisch hinterfragt werden muss. Die Antigenschnelltests in den Schulen bei asymptomatischen Kindern und Jugendlichen waren zum Beispiel retrospektiv gesehen von geringem Nutzen. 

Für die Industrie und die Wissenschaft könnte der Aspekt der Viruslast interessant sein: Wir setzen meist RNA-Menge und Viruslast gleich, weil wir sie so einfach bestimmen können. Unsere Daten weisen darauf hin, dass das Verhältnis von Nukleokapsid, also eines Virusproteins, welches wir mit Schnelltests detektieren, und der RNA in Rachenabstrichen nicht konstant ist, sondern von der Symptomatik des Infizierten abhängt. Und letztere hängt wiederum vom Impfstatus und der Virusvariante ab. 

Inwiefern könnte Ihre Studie die Herstellung neuer Tests beeinflussen? 

Manuel Krone: Unsere Ergebnisse sind in der Tat ein Ausgangspunkt für neue diagnostische Tests, zum einen, um die Schwere einer Infektion vorherzusagen, zum anderen, um neue Targets zu definieren, wann welcher Test anschlägt, mit welcher Methodik, bei welcher Dynamik. 
Wir haben gesehen, dass RNA und Nukleokapsid unterschiedliche Dynamiken in der Infektion haben, und das muss man berücksichtigen, wenn man neue Tests entwickelt.

Ist die Forschung in Würzburg an den Antigenschnelltests mit dieser Studie nun abgeschlossen?

Manuel Krone: Unsere Forschung zum Thema SARS-CoV-2-Antigenschnelltests ist damit abgeschlossen. Aber… 

Isabell Wagenhäuser: …man kann und sollte sich jetzt natürlich noch weiterführend damit beschäftigen. Es gibt verschiedene Ansatzpunkte, die wichtig und interessant sind. Entsprechend viele offene Forschungsfragen sind entstanden, die wir aus dem Projekt mitnehmen. Das Nukleokapsid-RNA-Verhältnis ist bisher noch gar nicht erforscht. Wie verhalten sich im akuten Infektionsgeschehen die RNA, die die PCR diagnostiziert, und die im Rachenraum vorhandenen Virusproteine, die der Antigenschnelltest nachweist, zueinander? Hier lassen sich weitere Anknüpfungspunkte für neue diagnostische Methoden finden. Wie korreliert das Nukleokapsid-RNA-Ratio, also das Verhältnis der Menge an Nukleokapsidproteinen zur Menge an RNA innerhalb eines Viruspartikels, mit der Schwere der Symptome? Kann ich damit möglicherweise klinische Verläufe vorhersagen? Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Nachhaltigkeit. Wir haben ja mit den Antigenschnelltests unglaublich viel Müll produziert und viele Ressourcen verbraucht bzw. in die Diagnostik investiert. Dann die Frage der Übertragbarkeit auf andere Erreger: Es gibt inzwischen kombinierte Antigenschnelltests, die SARS-CoV-2, RSV und Influenza A und B nachweisen. Was können sie wirklich? PCR-Methoden lassen sich inzwischen auch gut außerhalb von Laboreinrichtungen durchführen, so genannte Point-of-Care-Tests (POCT). Damit kann man eine Reihe von Auswertungen in Gang setzen und Diagnostikalgorithmen optimieren.

Die Diagnostik akuter respiratorischer Infektionen ist auch postpandemisch ein weites und zudem ein sehr relevantes Feld in der klinischen Anwendung. Es gibt also auch postpandemisch viele hochrelevante Fragestellungen, die nicht nur Teil der Pandemic Preparedness sind im Sinne von „wie bereiten wir uns auf die nächste Pandemie vor“, sondern auch die allgegenwärtige Regelversorgung betreffen.

Gab es Überraschungsmomente im Rahmen der Studie?

Manuel Krone: Ja, am Ende beim Peer-Review-Verfahren. Wir hatten schon eine saubere und gut ausgearbeitete Statistik, die bei der Komplexität der Daten auch notwendig ist, aber nach der Begutachtung mussten wir noch einmal komplexe Regressionsmodelle nachliefern.

Isabell Wagenhäuser: Wichtig zu betonen ist auch, dass wir aus den geplanten Studiendaten erst in Kombination mit richtig großen Routinedatensätzen zu solchen Erkenntnissen kommen konnten. Das Ausmaß an herangezogenen Datensätzen hat mich positiv überrascht, sodass wir am Ende mehr als 500.000 Datensätze aus Befragungen, Meldedaten, dem Krankenhausinformationssystem und Laborauswertungen intelligent zusammenführen konnten, was die Komplexität der Studie überhaupt erst ermöglicht hat.

Wie setzen sich die Studienteilnehmenden zusammen? 

Isabell Wagenhäuser: 87 Prozent der Antigenschnelltests wurden an Patientinnen und Patienten, zwölf Prozent an Begleitpersonen und ein Prozent an Beschäftigten durchgeführt. Alle Rachenabstriche wurden von Mitarbeitenden in den verschiedenen Kliniken des UKW durchgeführt.

Manuel Krone: Deshalb ist diese Studie letztlich auch eine Gemeinschaftsleistung des UKW. Ohne unsere Kolleginnen und Kollegen wäre eine so komplexe Studie nicht möglich gewesen.

In der Studie wurden alle Proben aus Rachenabstrichen gewonnen. Was ist aussagekräftiger? Nase oder Rachen?

Manuel Krone: Diese Frage haben wir nicht untersucht. Es gibt auch erstaunlich wenige Studien, die das vergleichen. Fazit für mich aus den Studien, die ich kenne, auch wenn die eine oder andere Mal einen kleinen Unterschied findet: Es ist völlig egal, solange man symptomatisch ist.

Testen Sie sich selbst? 

Isabell Wagenhäuser: Im vergangenen Sommer hatte ich tatsächlich eine akute respiratorische Infektion und habe als einzige Diagnosemöglichkeit einen Antigenschnelltest gemacht, der zwar negativ, aber niederschwellig verfügbar war. 

Manuel Krone: Wenn ich einen Atemwegsinfekt habe und ich befürchte, dass das jetzt mit meinen drei Kindern regelmäßig kommt, dann teste ich mich. Die Tests liegen ja noch da.

Das Interview führte Kirstin Linkamp von der Stabsstelle Kommunikation (UKW). 

Publikation: Wagenhäuser, Isabell, Kerstin Knies, Tamara Pscheidl, Michael Eisenmann, Sven Flemming, Nils Petri, Miriam McDonogh, Agmal Scherzad, Daniel Zeller, Anja Gesierich, Anna Katharina Seitz, Regina Taurines, Ralf-Ingo Ernestus, Johannes Forster, Dirk Weismann, Benedikt Weißbrich, Johannes Liese, Christoph Härtel, Oliver Kurzai, Lars Dölken, Alexander Gabel, and Manuel Krone. "SARS-CoV-2 Antigen Rapid Detection Tests: Test Performance during the COVID-19 Pandemic and the Impact of COVID-19 Vaccination", EBioMedicine, 2024. https://doi.org/10.1016/j.ebiom.2024.105394 

Weitere Publikationen und Pressemitteilungen zur Studie: 
Im Sommer 2021 wurden die ersten Daten aus der Studie in der Fachzeitschrift eBioMedicine veröffentlicht. Die Forschenden fanden heraus, dass gängige Schnelltests auf eine Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus Infizierte deutlich seltener erkennen als ein PCR-Test. Die Sensitivität der Antigenschnelltests im klinischen Praxiseinsatz lag mit 42,6 Prozent signifikant unter den Herstellerangaben. Eine Zusammenfassung liefert die Pressemitteilung
Ein Jahr später, etwa zur Halbzeit der Studie, als sich das erste Mal Omikron, verbreitete, publizierte das Team eine Folgeanalyse im Journal Clinical Microbiology and Infection. Von 426 SARS-CoV-2-positiven PCR-Proben waren im Schnelltest nur 164 positiv. Das entspricht einer Sensitivität von lediglich 38,50 Prozent. Bei der zu der Zeit vorherrschenden Omikron-Variante schlugen sogar nur 33,67 Prozent an. Beim Wildtyp zeigten immerhin 42,86 Prozent der Schnelltests einen positiven Befund. Hier geht es zur Pressemitteilung vom 26. August 2022. 
 

Das Bild zeigt eine Hand mit blauem Handschuhe, welche die Pufferlösung auf den Teststreifen tropfen lässt.
In der Pandemie wurden am Uniklinikum Würzburg von November 2020 bis Juni 2023 über 100.000 SARS-CoV-2-Antigenschnelltests durchgeführt, deren Testperformance PD Dr. Manuel Krone und Isabell Wagenhäuser gemeinsam im Pandemieverlauf verfolgt und fortlaufend ausgewertet haben. © Angie Wolf / UKW
Collage der Porträts von Isabell Wagenhäuser und Manuel Krone
PD Dr. Manuel Krone und Isabell Wagenhäuser haben im Journal eBioMedicine ihre abschließende Analyse der weltweit größten Antigenschnellteststudie veröffentlicht, welche die gesamte COVID-19-Pandemie und den Einfluss der Omikron-VOC und der COVID-19-Impfung einschließt. © Collage / UKW

Schon zweihundert MIAI-Babys

Studienprotokoll in Frontiers in Immunology veröffentlicht

Der Datenschatz der MIAI-Geburtskohorte soll Aufschluss darüber geben, wie sich das Immunsystem von Kindern im ersten Lebensjahr entwickelt und warum manche Kinder anfälliger für schwere Virusinfektionen sind als andere.

 

Baby Fabian liegt zufrieden auf dem Wickeltisch, während die Studienärztin einen Hautabstrich macht.
Fabian ist das zweihundertste MIAI-Baby. Die Geburtskohorte MIAI des Uniklinikums Würzburg untersucht die Entwicklung des Immunsystems gegen Virusinfektionen der Atemwege. MIAI steht für Maturation of Immunity Against Influenza. © Kirstin Linkamp / UKW
Fabian, das 200ste MIAI-Baby wird von der Studienärztin mit dem Stethoskop abhört.
Studienärztin Dr. Janina Marißen untersucht Fabian vier Wochen nach seiner Geburt in der MIAI-Studienambulanz der Kinderklinik. Sie hört Herz und Lunge ab, überprüft den Muskeltonus und sammelt biologische Proben wie zum Beispiel Hautabstriche. © Kirstin Linkamp / UKW
Die Mutter hält den vier Wochen alten Fabian im Arm, sein Vater steht daneben.
Fabians Eltern freuen sich, dass sie mit ihren und Fabians Daten einen wertvollen Beitrag für die Wissenschaft leisten können. Die Ergebnisse von MIAI könnten helfen, die Immunität gegen Atemwegsviren besser zu verstehen und Empfehlungen zu geben, wie Eltern die Entwicklung des Immunsystems frühzeitig fördern können, um schwere Krankheitsverläufe zu vermeiden. © Kirstin Linkamp / UKW

Würzburg. Fabian ist das zweihundertste MIAI-Baby. Mit ihm hat die MIAI-Studienambulanz des Universitätsklinikums Würzburg (UKW) einen wichtigen Meilenstein erreicht, um schon einige der Fragestellungen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projektes anzugehen. Mit den in der MIAI-Geburtskohorte gesammelten Daten, Untersuchungsergebnissen und Bioproben will das Studienteam um Prof. Dr. Dorothee Viemann verstehen, wie Babys im ersten Lebensjahr lernen, sich gegen Viren wie Influenza, RSV oder SARS-CoV-2 zu verteidigen. MIAI steht für Maturation of Immunity Against Influenza - die Entwicklung des Immunsystems gegen Virusinfektionen der Atemwege. Virale Atemwegsinfektionen sind nach wie vor weltweit ein großes Problem und verursachen zahlreiche Erkrankungen und Todesfälle. 

Welche Einflüsse prägen das Immunsystem? 

Nach der Geburt reift das Immunsystem und passt sich der neuen Umwelt an. Wie gut sich unser Immunsystem zur Abwehr solche Virusinfektionen entwickelt, hängt neben genetischen Faktoren vor allem von Umwelteinflüssen ab. Welche Umweltfaktoren die Immunreifung fördern und welche sie stören, ist allerdings bis heute nicht ganz klar. Zudem gilt es zu verstehen, welche Komponenten und Zellen des Immunsystems bei Neugeborenen und Kindern wichtig sind, um schwere Atemwegsinfektionen zu verhindern. Diese Unklarheiten nimmt der Lehrstuhl für Translationale Pädiatrie der Kinderklinik gemeinsam mit der Frauenklinik in der MIAI-Studie genauer unter die Lupe. 

Das MIAI-Team untersucht zum Beispiel, welche Rolle der sozioökonomische Hintergrund, die Anzahl von Familienmitgliedern, Kinderkrippenbesuche, Impfungen, Infektionen und Ernährung bei der frühen Entwicklung von Immunantworten spielen. Außerdem wird der Frage nachgegangen, ob es einen Zusammenhang zwischen der Bildung des Mikrobioms, also der Gesamtheit der Mikroorganismen im Körper, und der Entwicklung der Immunität gegen diese Virusinfektionen nach der Geburt gibt.

Dazu werden die Kinder direkt nach der Geburt in der Würzburger Frauenklinik sowie nach einem, sechs und zwölf Monaten in der MIAI-Studienambulanz der benachbarten Kinderklinik untersucht. Dabei werden der Gesundheitszustand der Kinder erfragt, verschiedene biologische Proben wie Hautabstriche und Stuhlproben gesammelt, die Babys gemessen und gewogen, Herz und Lunge abgehört und der Muskeltonus überprüft.

MIAI-Kinder liefern wichtigen Beitrag für die Wissenschaft 

Die Pläne und das Design der MIAI-Studie sowie die Charakteristika der ersten 171 MIAI-Babys hat Dorothee Viemann jetzt mit ihrem Team in der Fachzeitschrift Frontiers in Immunology veröffentlicht. Besonders hervorzuheben sei die Akzeptanz des Studiendesigns. „Wir haben eine relativ geringe Abbruchquote von etwa 8 Prozent“, berichtet Studienkoordinatorin Dr. Carina Hartmann, die gerade selbst Mutter eines Sohnes geworden ist. Dazu zählen auch Familien, die aus Würzburg weggezogen sind. „Ohne die Eltern könnten wir die MIAI-Studie nicht durchführen. Und die Eltern sind wirklich sehr engagiert, sie kommen gerne zu uns, jetzt auch schon mit den ersten Geschwisterkindern. Das spricht für die Studie und das Studienteam. Unser Studienteam hat zu jedem Kind ein Gesicht und verfolgt seine Entwicklung mit Spannung und Freude.“

Viele Eltern schätzen den zusätzlichen Blick auf ihr Kind neben den U-Untersuchungen beim niedergelassenen Kinderarzt, die Motive für die Teilnahme an der Studie sind aber vor allem altruistischer Natur. Auch Fabians Eltern machen gerne bei MIAI mit, „weil wir mit unseren und Fabians Daten einen wertvollen Beitrag für die Wissenschaft leisten können“. Denn die Ergebnisse könnten helfen, die Immunität gegen Atemwegsviren besser zu verstehen und Empfehlungen zu geben, wie Eltern die Entwicklung des Immunsystems frühzeitig fördern können, um schwere Krankheitsverläufe zu vermeiden. 

MIAI-Studie geht weiter – Dank des großen Engagements der Eltern und weiterer Fragestellungen

Viele Erkrankungen werden erst nach der Säuglingszeit sichtbar. Ein frühkindliches Asthma bronchiale ist dafür ein klassisches Beispiel. Häufige Bronchitiden im Laufe des ersten Lebensjahrs können ein Vorläufersymptom für ein Asthma sein, aber nicht bei jedem Kind manifestiert sich tatsächlich diese chronische Atemwegserkrankung. Um solche Zusammenhänge zu verstehen und Faktoren zu identifizieren, die die Entstehung chronisch immunologischer Erkrankungen begünstigen, ist die Nachverfolgung der MIAI-Kinder über das erste Lebensjahr hinaus nun unerlässlich.

Wenn es die finanziellen Möglichkeiten erlauben, würden Prof. Dorothee Viemann und Prof. Christoph Härtel, Direktor der Kinderklinik, gesundheitsrelevante Daten gerne bis über das 16. Lebensjahr hinaus sammeln. „In der Pubertät wird im Immunsystems nochmals vieles neugeordnet und reprogrammiert“ erklärt Dorothee Viemann. „Mit diesem Projekt würden wir den Grundstein für wichtige zukünftige Erkenntnisse legen - eine solche Kohorte wäre gerade für die kommende Generation an Forscherinnen und Forschern ein unglaublicher Schatz!“

Studienwebseite mit weiteren Informationen: www.ukw.de/miai.

Publikation:
Carina R. Hartmann, Robin Khan, Jennifer Schöning, Maximilian Richter, Maike Willers, Sabine Pirr, Julia Heckmann, Johannes Dirks, Henner Morbach, Monika Konrad, Elena Fries, Magdalene Winkler, Johanna Büchel, Silvia Seidenspinner, Jonas Fischer, Claudia Vollmuth, Martin Meinhardt, Janina Marissen, Mirco Schmolke, Sibylle Haid, Thomas Pietschmann, Simona Backes, Lars Dölken, Ulrike Löber, Thomas Keil, Peter U. Heuschmann, Achim Wöckel, Sagar, Thomas Ulas, Sofia K. Forslund-Startceva, Christoph Härtel, Dorothee Viemann. A clinical protocol for a German birth cohort study of the Maturation of Immunity Against respiratory viral Infections (MIAI). Frontiers in Immunology, Volume 15 - 2024, https://doi.org/10.3389/fimmu.2024.1443665

Text: Kirstin Linkamp / UKW 

Baby Fabian liegt zufrieden auf dem Wickeltisch, während die Studienärztin einen Hautabstrich macht.
Fabian ist das zweihundertste MIAI-Baby. Die Geburtskohorte MIAI des Uniklinikums Würzburg untersucht die Entwicklung des Immunsystems gegen Virusinfektionen der Atemwege. MIAI steht für Maturation of Immunity Against Influenza. © Kirstin Linkamp / UKW
Fabian, das 200ste MIAI-Baby wird von der Studienärztin mit dem Stethoskop abhört.
Studienärztin Dr. Janina Marißen untersucht Fabian vier Wochen nach seiner Geburt in der MIAI-Studienambulanz der Kinderklinik. Sie hört Herz und Lunge ab, überprüft den Muskeltonus und sammelt biologische Proben wie zum Beispiel Hautabstriche. © Kirstin Linkamp / UKW
Die Mutter hält den vier Wochen alten Fabian im Arm, sein Vater steht daneben.
Fabians Eltern freuen sich, dass sie mit ihren und Fabians Daten einen wertvollen Beitrag für die Wissenschaft leisten können. Die Ergebnisse von MIAI könnten helfen, die Immunität gegen Atemwegsviren besser zu verstehen und Empfehlungen zu geben, wie Eltern die Entwicklung des Immunsystems frühzeitig fördern können, um schwere Krankheitsverläufe zu vermeiden. © Kirstin Linkamp / UKW

Internationales Symposium in Würzburg zur Medizin von Früh- und Neugeborenen feiert Jubiläum

Mehr als 50 prominente Neugeborenenmediziner sowie Wissenschaftler aus aller Welt kommen Mitte Oktober nach Würzburg.

Würzburg. Vom 12. bis 14. Oktober 2024 findet das internationale Symposium zur Früh- und Neugeborenenmedizin „Recent Advances in Neonatal Medicine“ im Congresscentrum Würzburg (CCW) statt. Dieses Symposium, das vom ehemaligen Direktor der Universitätskinderklinik, Professor Christian P. Speer, alle drei Jahre ausgerichtet wird, feiert in diesem Jahr sein 25-jähriges Jubiläum am Standort Würzburg. Es hat sich zu einem der renommiertesten und angesehensten Kongresse der Früh- und Neugeborenenmedizin entwickelt.

Mehr als 50 prominente Neugeborenenmediziner sowie Wissenschaftler aus aller Welt kommen Mitte Oktober nach Würzburg. Sie werden drei Tage lang die neuesten Erkenntnisse und Entwicklungen sowie Behandlungskonzepte und Grenzen der Früh- und Neugeborenenmedizin mit führenden Kinderärztinnen und Kinderärzten aus 60 Nationen aller Kontinente in Seminaren und Plenarsitzungen intensiv beleuchten und diskutieren.

Themenschwerpunkte dieses klinisch- wissenschaftlichen Fachkongresses sind die kritischen ersten Lebensminuten von Früh- und Neugeborenen, die Früherkennung und optimale Behandlung von akuten und chronischen Erkrankungen sowie die Entwicklung von Strategien, die einen bestmöglichen Schutz dieser vulnerablen Kinder vor Folgeschäden gewährleisten.

Freude über den internationalen Wissenstransfer

Für den Initiator, Prof. Christian P. Speer, ist dieses Jahr ein besonderer Grund zur Freude: „Für mich ist ein Traum wahr geworden: Seit 25 Jahren bringen wir die führenden Spezialisten der internationaler Neugeborenenmedizin mit praktizierenden Kinderärzten und Wissenschaftlern aus aller Welt zusammen und können so den neusten Wissenstand kritisch definieren. Unsere Erkenntnisse und Würzburger Empfehlungen tragen sicherlich weltweit zur bestmöglichen Behandlung dieser vulnerablen Patientengruppe bei“, sagt der renommierte Mediziner. Für interessierte Neugeborenenmediziner, die nicht nach Würzburg kommen können, wird dieses Symposium aufgezeichnet und ist für mehrere Monate zur Fortbildung verfügbar.

Seinen Dank richtet Speer an alle, die dieses Symposium nachhaltig unterstützen, insbesondere an seinen Nachfolger an der Universitätskinderklinik, Professor Christoph Härtel, sowie an alle dort tätigen Mitarbeiter und die Beschäftigten der Tagungsabteilung von Congress-Tourismus-Würzburg, die bei der Organisation dieses Symposiums helfen.

„Zwar haben sich die technischen Möglichkeiten der Kommunikation zwischenzeitlich grundlegend verändert, jedoch zeigt sich gerade bei komplexen wissenschaftlichen Themen, wie sehr der Wissensaustausch von persönlichen Gesprächen, fachlichen Diskussionen und Netzwerken abhängt“, ergänzt Björn Rudek, Tourismusdirektor der Stadt Würzburg.

Unterstützung durch Congress-Tourismus-Würzburg

Für einen reibungslosen Ablauf der Fachtagung sorgt das engagierte Team der Tagungsabteilung von Congress-Tourismus-Würzburg. Von der Raumbuchung im CCW über die Teilnehmerregistrierung bis zur Konzeption und Planung des Rahmenprogramms laufen dort alle Fäden zusammen.

„Das CCW ist ein idealer Austragungsort für eine Veranstaltung dieser Größenordnung und Struktur. In Kombination mit dem seit 2015 deutlich erweiterten Raumangebot mit großen Präsentationsflächen bietet es ausgezeichnete Voraussetzungen für internationale Fachkongresse. Die optimale Erreichbarkeit Würzburgs und die kurzen Wege in der Stadt werden von unseren weltweit anreisenden Teilnehmern und Referenten sehr geschätzt“, resümiert Professor Speer. „Würzburg ist zudem international als bedeutender Standort für Wissenschaft und Forschung bekannt“, bemerkt Björn Rudek.

Zur Homepage des Symposiums: https://www.recent-advances.com/

Protein-Kick stärkt Babys Darm

Postnatale Supplementierung mit S100a8/a9-Alarminen verbessert die durch Mangelernährung verursachte Enteropathie

Das Team der Abteilung Translationale Pädiatrie des Uniklinikums Würzburg (UKW) identifiziert in der Fachzeitschrift Nature Communications den Mangel an S100a8/a9 als entscheidenden pathogenetischen Faktor der durch mütterliche Mangelernährung induzierten Enteropathie und zeigt, dass eine einmalige Gabe des Proteins S100a8 direkt nach der Geburt ausreicht, um die Etablierung dieser Darmerkrankung zu verhindern und damit vor dem sonst lebenslang erhöhten Risiko für Darminfektionen und Darmentzündungen zu schützen.

 

Das Bild zeigt eine mikroskopische Aufnahmen von immunfluoreszenzgefärbten Zellen eines Mausdarms.
Immunfluoreszenzfärbung eines Mausdarms. Gefärbt wurden Marophagen (grün) und S100A8/A9 (rot), ein Protein das vor allem in myeloiden Zellen vorkommt. © Julia Heckmann / UKW
Collage aus Porträtbildern von Dorothee Viemann und Julia Heckmann
Prof. Dr. Dorothee Viemann (links) und Julia Heckmann haben Kolleginnen und Kollegen von der Translationalen Pädiatrie am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) und vom Institut für Biomedizinische Forschung der Universität della Svizzera Italiana welchen Einfluss eine mütterliche Mangelernährung auf die Gesundheit des Kindes, insbesondere auf die Darmentwicklung, hat. © UKW-Collage
Die gelernte Kinderkrankenschwester Sylvia Königer holt die zuvor abgepumpte Muttermilch aus dem Kühlschrank.
In der Würzburger Universitäts-Kinderklinik stellt das Ernährungszentrum für Säuglinge sicher, dass Früh- und Neugeborene rund um die Uhr die Milch der eigenen Mutter erhalten. Die zuvor abgepumpte Muttermilch wird unter strengsten hygienischen Auflagen behandelt, in Flaschen oder Spritzen gefüllt, etikettiert und ausgeliefert. Je nach ärztlicher Anweisung können patientenindividuell Supplemente, wie Fette, Kohlehydrate und Eiweiße, zugesetzt werden. © Kirstin Linkamp / UKW

Würzburg. Weltweit leiden Millionen von Kindern Mangelernährung und den damit verbundenen gesundheitlichen Folgen. Dazu gehört auch die sogenannte umweltbedingte Enteropathie („environmental enteropathy“, altgriechisch énteron für Darm und páthos für Leiden). Bisher wurde angenommen, dass diese chronische Darmentzündung durch unhygienische Lebensbedingungen, häufige Aufnahme von Krankheitserregern und ein ungünstiges Darmmikrobiom verursacht wird. Die bei Mangelernährung auftretende Enteropathie führt zu einer verminderten Aufnahmefähigkeit des Darms für Nährstoffe und damit zusätzlichen Verstärkung der Mangelernährung - ein Teufelskreis. 

Prof. Dr. Dorothee Viemann, Leiterin der Translationalen Pädiatrie am Universitätsklinikum Würzburg (UKW), untersuchte mit ihrem Team und einer Schweizer Forschergruppe vom Institut für Biomedizinische Forschung der Universität della Svizzera Italiana, welchen Einfluss eine mütterliche Mangelernährung auf die Gesundheit des Kindes, insbesondere auf die Darmentwicklung, hat. Die Ergebnisse wurden jetzt in der renommierten Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht. 

Körpereigene Proteine S100A8/A9 kommen in hohen Mengen in Muttermilch vor

„Wir konnten im Mausmodell zeigen, dass eine Mangelernährung der Mutter ausreicht, um beim Neugeborenen schon während der Stillzeit eine Darmentzündung auszulösen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die körpereigenen Proteine S100A8/A9. Diese kommen in der Muttermilch in großen Mengen vor, sind aber bei Mangelernährung der Mutter deutlich reduziert“, berichtet Erstautorin Julia Heckmann. Die Doktorandin hatte bereits ihre Masterarbeit in Biomedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) bei der Neonatologin und Immunologin Dorothee Viemann geschrieben und war vor drei Jahren mit ihrer Professorin nach Würzburg gewechselt, um sich auch in ihrer Doktorarbeit mit den Proteinen der S100-Familie und ihrer ambivalenten Funktion zu beschäftigen. Denn die so genannten Alarmin-Proteine, die bei Stress oder Zellschäden als Gefahrensignal freigesetzt werden, tragen dazu bei, entzündungsfördernde Prozesse sowohl zu regulieren als auch zu verstärken. 

Alarmine beeinflussen die Entwicklung der Darmflora und des Immunsystems nach der Geburt 

Dorothee Viemann beschrieb bereits während ihrer Tätigkeit in Hannover die Rolle von S100-Alarminen in der Regulation der körpereigenen Abwehr von Neugeborenen. S100-Alarmine sorgen dafür, dass das Immunsystem von Säuglingen in den Monaten nach der Geburt zunächst ganz bewusst mit angezogener Handbremse läuft. Zum einen, damit sich die körpereigenen Abwehrtruppen nicht in unzählige Scharmützel mit neuen Bakterien und Fremdkörpern verwickeln lassen und dabei starke, lebensgefährliche Entzündungsreaktionen auslösen. Zum anderen, damit sich der Darm mit bestimmten Bakterien besiedeln und das sogenannte Mikrobiom bilden kann. 
„Kindern, die nach der Geburt zu wenig dieser Alarmin-Proteine bilden, fehlt diese Handbremse, weshalb sie ein massiv erhöhtes Risiko für schwere Infektionsverläufe haben. Vor allem bei Frühgeborenen, denen es an S100A8/A9 mangelt, ist das Sepsisrisiko deutlich erhöht“, sagt Dorothee Viemann, die gemeinsam mit dem Direktor der Universitäts-Kinderklinik, Prof. Dr. Christoph Härtel, im Forschungsprojekt PROSPER (Prevention of Sepsis by personalized nutritional S100A8/A9 supplementation to vulnerable neonates) untersucht, ob eine Nahrungsergänzung mit S100A8/A9 Frühgeborene mit niedrigen Alarmin-Spiegeln vor einer Sepsis schützt.

Mehr als 10 Prozent der kindlichen Todesfälle sind auf Darminfektionen zurückzuführen

Doch auch bei Reifgeborenen kann ein Mangel an S100A8/A9 zu chronischen Darmentzündungen und zu einer ungünstigen Keimbesiedlung des Darms führen, wenn eben nicht genügend dieser Alarmine in der Muttermilch vorhanden sind. Dazu kann es kommen, wenn die Mütter z.B. unterernährt oder fehlernährt sind. Die häufigste Form der Unterernährung ist die Protein-Energie-Mangelernährung. Sie führt bei Kindern zu Wachstumsstörungen und macht sie besonders anfällig für Infektionen, insbesondere für Darminfektionen, die für mehr als 10 Prozent der Todesfälle bei Kindern verantwortlich sind.

In ihrer Studie, die von der Bill & Melinda Gates Foundation und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wurde, legen die Wissenschaftlerinnen den Fokus auf einen Zeitraum, der in der Erforschung umweltbedingter Enteropathien bislang kaum Beachtung fand: die Stillzeit. Das verminderte S100A8/A9 in der Muttermilch mangelernährter Mütter legt den Grundstein für eine lebenslang erhöhte Suszeptibilität, also Empfänglichkeit, für überschießende Darmentzündungen. 

Einmalige Gabe des Proteins S100A8 direkt nach der Geburt schützt vor Darmentzündung

„Unsere aufregendste Entdeckung war, dass eine einmalige Gabe von S100A8 an Neugeborene eine gesunde Darmentwicklung sicherstellt - und zwar lebenslang“, freut sich Julia Heckmann. Eine Nahrungsergänzung mit S100A8 könnte daher eine vielversprechende und einfache Behandlungsmöglichkeit darstellen, um die kindliche Darmentwicklung bei reduzierten S100A8/A9-Spiegeln in der Muttermilch, aber auch generell bei reduzierter oder fehlender Muttermilchzufuhr zu schützen. „Milchersatzprodukte enthalten kein S100A8/A9, sollten aber aufgrund unserer Ergebnisse dringend in Betracht gezogen werden“, rät Dorothee Viemann. 

Präklinische Studie untersucht Wirksamkeit, Sicherheit und Dosierung der Nahrungsergänzung mit S100A8/A9

Ob sich diese Erkenntnisse vom Mausmodell auf den Menschen übertragen lassen, wie wirksam und sicher die Nahrungsergänzung ist und welche Dosierung geeignet ist, untersucht das Team bereits in einer neuen Studie, die vom BMBF gefördert wird. „In der präklinischen Studie wollen wir die Wirkung der Nahrungsergänzung mit S100A8/A9 auf Erkrankungen und das Darmmikrobiom testen, mögliche Nebenwirkungen aufdecken und Dosisempfehlungen für eine klinische Studie geben“, sagt Dorothee Viemann. 

Nachdem der Effekt von S100A8/A9 auf das Immunsystem des Neugeborenen relativ gut verstanden ist, will das Team außerdem untersuchen, wie die Alarmine auf die Epithelzellen der Darmschleimhaut wirken. Die Epithelzellen bilden schließlich die erste Zellschicht im Darm, mit der S100A8/A9 aus der Muttermilch in Kontakt kommt. 

Publikation:
Perruzza, L., Heckmann, J., Rezzonico Jost, T. et al. Postnatal supplementation with alarmins S100a8/a9 ameliorates malnutrition-induced neonate enteropathy in mice. Nat Commun 15, 8623 (2024). https://doi.org/10.1038/s41467-024-52829-x

Text: Kirstin Linkamp / UKW 
 

Das Bild zeigt eine mikroskopische Aufnahmen von immunfluoreszenzgefärbten Zellen eines Mausdarms.
Immunfluoreszenzfärbung eines Mausdarms. Gefärbt wurden Marophagen (grün) und S100A8/A9 (rot), ein Protein das vor allem in myeloiden Zellen vorkommt. © Julia Heckmann / UKW
Collage aus Porträtbildern von Dorothee Viemann und Julia Heckmann
Prof. Dr. Dorothee Viemann (links) und Julia Heckmann haben Kolleginnen und Kollegen von der Translationalen Pädiatrie am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) und vom Institut für Biomedizinische Forschung der Universität della Svizzera Italiana welchen Einfluss eine mütterliche Mangelernährung auf die Gesundheit des Kindes, insbesondere auf die Darmentwicklung, hat. © UKW-Collage
Die gelernte Kinderkrankenschwester Sylvia Königer holt die zuvor abgepumpte Muttermilch aus dem Kühlschrank.
In der Würzburger Universitäts-Kinderklinik stellt das Ernährungszentrum für Säuglinge sicher, dass Früh- und Neugeborene rund um die Uhr die Milch der eigenen Mutter erhalten. Die zuvor abgepumpte Muttermilch wird unter strengsten hygienischen Auflagen behandelt, in Flaschen oder Spritzen gefüllt, etikettiert und ausgeliefert. Je nach ärztlicher Anweisung können patientenindividuell Supplemente, wie Fette, Kohlehydrate und Eiweiße, zugesetzt werden. © Kirstin Linkamp / UKW

Medizinforschungsgesetz stärkt den Forschungsstandort Deutschland

Beschleunigung und Vereinfachung von Genehmigungsverfahren sowie Zulassungsverfahren sind elementar für das Voranbringen von klinischen Prüfungen

Die Deutsche Hochschulmedizin (DHM) begrüßt die heutige Billigung des Medizinforschungsgesetzes (MFG) durch den Bundesrat als wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer Stärkung des Forschungsstandorts Deutschland. Die Beschleunigung und Vereinfachung von Genehmigungsverfahren sowie Zulassungsverfahren sind elementar für das Voranbringen von klinischen Prüfungen. Das MFG ist eingebettet in die Pharmastrategie der Bundesregierung, die darauf abzielt, die medizinische Forschung und die pharmazeutische Industrie in Deutschland zu stärken. Dies ist notwendig geworden, weil Deutschland im internationalen Vergleich an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat. Das MFG beinhaltet konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Forschungsbedingungen und zur Durchführung klinischer Studien, die in der Verantwortung von Wissenschaft und Industrie liegen.

 „Die Universitätsmedizin ist unverzichtbarer Initiator und Partner bei der Entwicklung von Innovationen für unser Gesundheitswesen. Mit dem MFG werden Anreize gesetzt, klinische Studien durchzuführen, und die Rahmenbedingungen für Forschung werden verbessert. Damit stärkt das MFG den biomedizinischen Forschungsstandort Deutschland und die Arbeit der exzellenten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der deutschen Hochschulmedizin. Eine erfolgreiche und nachhaltige Stärkung der biomedizinischen Forschung ist angesichts des schnellen wissenschaftlichen Fortschritts und mit Blick auf die zukünftige Gesundheitsversorgung ausgesprochen wichtig“, betont Prof. Jens Scholz, 1. Vorsitzender des Verbandes der Universitätsklinika Deutschlands.

Standardvertragsklauseln zur Beschleunigung der Vertragsverhandlungen

Ein wichtiger Bestandteil des neuen Gesetzes ist die Einführung verbindlicher Standardvertragsklauseln. „Wir begrüßen es, dass nun über den Verordnungsweg ein stärkeres Maß an Verbindlichkeit erreicht wird“, erklärt Prof. Matthias Frosch, Präsident des Medizinischen Fakultätentags (MFT). „Als Deutsche Hochschulmedizin haben wir gemeinsam mit weiteren Verbänden aus Industrie und Akademie durch unsere Mustervertragsklauseln ein Angebot zur zügigen Umsetzung gemacht und stehen für weitergehende Unterstützung bereit. Die gezielt gesetzten Anreize für Arzneimittelhersteller zur Durchführung klinischer Studien in Deutschland und zur Zusammenarbeit mit öffentlichen Forschungseinrichtungen sind ein ganz wichtiger Schritt, um den Forschungsstandort Deutschland attraktiver zu machen.”

 

Quelle: Pressemitteilung, Deutsche Hochschulmedizin e.V., 27.09.2024

Ehre und Verpflichtung

Prof. Dr. Hermann Einsele wurde in der Leopoldina und Academia Europaea aufgenommen und erhielt beim 21sten International Myeloma Society Meeting in Rio De Janeiro (Brasilien) als erster Deutscher den „Ken Anderson Basic and Translational Research Award“. Der Preis wird für herausragende Leistungen in der translationalen Myelomforschung verliehen.

 

Porträtfoto von Hermann Einsele im weißen Kittel im Flur des ZIM/ZOM am UKW
Prof. Dr. Hermann Einsele, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums Würzburg, wurde in der Leopoldina und Academia Europaea aufgenommen. © Daniel Peter
Leo Rasche (links) und Martin Kortüm (rechts) gratulieren beim Kongress Hermann Einsele zum Preis, den er in seinen Händen hält.
Prof. Dr. Hermann Einsele, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des UKW erhielt beim 21sten International Myeloma Society Meeting in Rio De Janeiro (Brasilien) als erster Deutscher den „Ken Anderson Basic and Translational Research Award“. Hier gratulieren ihm die Leiter der klinischen und translationalen Myelomforschung am UKW, Prof. Dr. Leo Rasche (links) und Prof. Dr. Martin Kortüm (rechts).

Würzburg. Charles Darwin, Marie Curie, Albert Einstein, Emmanuelle Charpentier - sie alle waren oder sind Mitglieder der Leopoldina. Die Nationale Akademie der Wissenschaften zählt zu den ältesten und renommiertesten Wissenschaftsakademien der Welt. Als „Academia Naturae Curiosorum" 1652 in Schweinfurt gegründet, beschäftigten sich die ersten Mitglieder der „Akademie der Naturforscher“ vor allem mit medizinischen und naturwissenschaftlichen Fragen und trugen wesentlich zur wissenschaftlichen Aufklärung bei. Bis heute steht die Leopoldina für wissenschaftliche Exzellenz und interdisziplinären Austausch. Die Nominierung und Wahl zum Mitglied ist sowohl eine Anerkennung des wissenschaftlichen Lebenswerkes als auch eine Plattform, die Wissenschaftslandschaft aktiv mitzugestalten. 

Über die Ehre in den Kreis der rund 1.600 Akademiemitglieder aus 30 Ländern aufgenommen worden zu sein, freut sich gerade ganz besonders Prof. Dr. Hermann Einsele, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums Würzburg. „Ich freue mich sehr über diese große Anerkennung meiner bisherigen wissenschaftlichen Leistungen und darauf, mich als Mitglied aktiv in die Arbeit dieser traditionsreichen Nationalen Akademie einbringen zu können“, so der Internist und Krebsspezialist. Um ihre Stärke der Akademie zu erhalten, wählt die Leopoldina jedes Jahr in einem mehrstufigen Auswahlverfahren etwa 50 neue Mitglieder.

Verständnis der Wissenschaften in der Öffentlichkeit verbessern und fördern

Die Mitglieder sind in Fachsektionen organisiert, die wiederum vier Klassen mit den Schwerpunkten Naturwissenschaften, Lebenswissenschaften, Medizin sowie Verhaltens-, Sozial- und Geisteswissenschaften zugeordnet sind. Unabhängig von wirtschaftlichen oder politischen Interessen erarbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gesellschaftlich relevante Zukunftsthemen und beraten die deutsche Politik und internationale Institutionen in wichtigen Fragen. Ihre Stellungnahmen zu Themen wie Gesundheit, Klimawandel oder Technologie haben großes Gewicht.
Bereits ein Jahr zuvor, 2023, war Hermann Einsele Mitglied der Academia Europaea geworden. Die 1988 gegründete europäische regierungsunabhängige wissenschaftliche Gesellschaft mit Sitz in London trägt mit vielfältigen Aktivitäten zur Stärkung der europäischen und internationalen Forschung bei und fördert den weltweiten Austausch von Wissen und Innovationen.

„Ken Anderson Basic and Translational Research Award“  

Beim 21. International Myeloma Society Meeting in Rio de Janeiro wurde Hermann Einsele eine weitere Ehre zuteil. Er erhielt als erster Deutscher den „Ken Anderson Basic and Translational Research Award“. Der Preis wird an Forscherinnen und Forscher verliehen, die bedeutende Fortschritte im Verständnis der Biologie des Multiplen Myeloms erzielt haben und deren Arbeiten potenziell klinische Anwendungen oder innovative Behandlungsansätze beeinflussen können. Benannt ist der Preis nach Dr. Kenneth C. Anderson, einem weltweit anerkannten Hämatologen und Experten für das Multiple Myelom am Dana-Farber Cancer Institute in Boston, vergeben wird er von der International Myeloma Foundation (IMF).

An der Zulassung wichtiger Krebstherapien beteiligt 

Die Expertise von Hermann Einsele liegt vor allem im Bereich der Stammzelltransplantation und der Immuntherapien bei hämatologischen Krebserkrankungen. Viele der Entwicklungen, an denen er beteiligt war, haben den klinischen Standard in der Behandlung von Blut- und Knochenmarkkrebs revolutioniert. So war er maßgeblich an der Erforschung und klinischen Entwicklung der CAR-T-Zelltherapie beteiligt, einer innovativen Immuntherapie zur Behandlung bestimmter Krebsarten, insbesondere des Multiplen Myeloms und anderer hämatologischer Malignome. Bei dieser Therapieform werden die T-Zellen der Patientinnen und Patienten genetisch so verändert, dass sie Krebszellen gezielt angreifen können. Einsele war auch führend in der Forschung zur allogenen und autologen Stammzelltransplantation, insbesondere bei der Verbesserung der Transplantationsverfahren und der Bekämpfung von Komplikationen wie Graft-versus-Host-Disease und schweren Infektionen bei immungeschwächten Patientinnen und Patienten. 


Über Hermann Einsele 

Hermann Einsele studierte Humanmedizin an den Universitäten Tübingen, Manchester und London. Im Jahr 1991 wurde er Facharzt für Innere Medizin, 1996 Facharzt für Hämatologie/Onkologie. Einsele habilitierte sich 1992 an der Abteilung für Hämatologie, Onkologie, Rheumatologie und Immunologie der Universität Tübingen und wurde 1999 zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Er war Gastprofessor am City of Hope Hospital in Duarte (Kalifornien) und am Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle. Im Juni 2004 wurde der gebürtige Stuttgarter auf den Lehrstuhl für Innere Medizin der Universität Würzburg berufen. Seit Dezember 2004 ist er Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums Würzburg. Hermann Einsele gehörte sechs Jahre lang dem Präsidium der Julius-Maximilians-Universität (JMU) als Vizepräsident für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs an und ist in zahlreichen nationalen und internationalen Forschungsverbünden, Beiräten und Gesellschaften aktiv. Seit 2023 ist er Sprecher des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen NCT WERA. 

Im Jahr 2003 erhielt Hermann Einsele den van Bekkum Award, die höchste jährliche europäische Auszeichnung für Forschung auf dem Gebiet der Stammzelltransplantation. Im Jahr 2011 wurde er zum Honorary Fellow des Royal College of Pathology in London gewählt und ein Jahr später, 2012, hielt er die Nobel Lecture Stem Cell Biology/Transplantation, Nobel Forum Karolinska Institute (Schweden). Seit 2014 ist er Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, und seit 2017 wird er regelmäßig als ISI „Highly Cited Researcher“ in der Kategorie Klinische Medizin ausgezeichnet. 2022 erhielt Professor Einsele den renommierten Erasmus Hematology Award der Erasmus Universität Rotterdam (Niederlande) für besondere Leistungen auf dem Gebiet der Immuntherapie von Krebserkrankungen sowie den Bayerischen Verfassungsorden. 2023 wurde er in die Academia Europaea aufgenommen, ein Jahr später in die Leopoldina. Im September 2024 erhielt er als erster Deutscher den  „Ken Anderson Basic and Translational Research Award“. Der Preis wird für herausragende Leistungen in der translationalen Myelomforschung verliehen.

Text: Kirstin Linkamp / UKW 

Porträtfoto von Hermann Einsele im weißen Kittel im Flur des ZIM/ZOM am UKW
Prof. Dr. Hermann Einsele, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums Würzburg, wurde in der Leopoldina und Academia Europaea aufgenommen. © Daniel Peter
Leo Rasche (links) und Martin Kortüm (rechts) gratulieren beim Kongress Hermann Einsele zum Preis, den er in seinen Händen hält.
Prof. Dr. Hermann Einsele, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des UKW erhielt beim 21sten International Myeloma Society Meeting in Rio De Janeiro (Brasilien) als erster Deutscher den „Ken Anderson Basic and Translational Research Award“. Hier gratulieren ihm die Leiter der klinischen und translationalen Myelomforschung am UKW, Prof. Dr. Leo Rasche (links) und Prof. Dr. Martin Kortüm (rechts).

Smartwatch als früher Wegweiser in Krebstherapie

Fallbericht zeigt erfolgreiche Synthese von präzisionsmedizinischen Ansätzen und digitalen Biomarkern

Das Uniklinikum Würzburg hat im Journal npj Precision Oncology einen Fall veröffentlicht, der nicht nur die Wirksamkeit des RET-Hemmers Selpercatinib bei einer seltenen Form von Bauchspeicheldrüsenkrebs demonstriert, sondern auch das Potenzial tragbarer Technologien. Smartwatches können die Überwachung von Krebsbehandlungen positiv beeinflussen und so eine schnelle Anpassung der Therapie ermöglichen.

Die Grafik zeigt einen Arm mit Smartwatch und Stufen des Krankheits- und Therapieverlaufs, außerdem ist ein QR-Code zur Studie eingeblendet.
Durch den Einsatz modernster Molekulardiagnostik und personalisierter Krebstherapie konnte ein 56-jähriger Patient mit einem seltenen Bauchspeicheldrüsenkrebs schnelle Fortschritte erzielen. Die Smartwatch spielte dabei eine entscheidende Rolle: Sie überwachte den Krankheitsverlauf engmaschig und erkannte den Therapieerfolg der personalisierten Behandlung durch Analyse von Herzfrequenz und Bewegungsdaten. Diese frühzeitige Erkennung von Verbesserungen ermöglichte eine präzise Anpassung der Therapie, noch bevor herkömmliche Tests Veränderungen zeigten. Ein beeindruckendes Beispiel für die Zukunft der personalisierten Medizin. © Alankreeta Bharali / Vivek Venkataramani
Porträtfoto von Privatdozent Dr. med. Vivek Venkataramani im weißen Kittel
Privatdozent Dr. Vivek Venkataramani ist Arzt für das Molekulare Tumorboard im Zentrum für Personalisierte Medizin des Uniklinikums Würzburg. © Jonas Hahn / Vivek Venkataramani

Würzburg. Seine Smartwatch zeigte ihm schon früh, dass er diesmal auf dem richtigen Weg war - noch bevor konventionelle Methoden wie radiologische Bildgebung und Blutuntersuchungen die Wirksamkeit der Therapie belegen konnten. Der 56-jährige Patient trug den Fitnesstracker bereits bei den vorangegangenen Chemotherapien am Handgelenk. Doch erst bei der präzisionsonkologischen Behandlung, die exakt auf die Eigenschaften seines großzelligen neuroendokrinen Pankreaskarzinoms zugeschnitten war, deuteten die täglich gemessenen Schrittzahlen und der Ruhepuls frühzeitig auf einen Erfolg hin.

Der Fallbericht, den ein Team des Comprehensive Cancer Centers Mainfranken (CCC MF) am Uniklinikum Würzburg (UKW) jetzt im Journal npj Precision Oncology veröffentlicht hat, ist in mehrfacher Hinsicht besonders. Die Publikation zeigt nicht nur die mögliche Wirksamkeit präzisionsonkologischer Behandlungen, sondern auch das medizinisch hilfreiche Potenzial digitaler Instrumente wie Smartwatches. Diese könnten die Überwachung von Krebsbehandlungen positiv beeinflussen und so eine schnelle Anpassung der Therapie ermöglichen.

RET-Inhibitor schaltet gezielt die Wirkung der Genveränderung aus

„Unser Patient litt an einer seltenen Form von Bauchspeicheldrüsenkrebs, bei der wir mit Hilfe einer molekulargenetischen Untersuchung eine Veränderung im Erbgut der Tumorzellen nachweisen konnten. Diese sogenannte RET-Gen-Fusion stimuliert das Wachstum der Tumorzellen“, berichtet Privatdozentin Dr. Barbara Deschler-Baier, Oberärztin am Interdisziplinären Studienzentrum (ISZ) des CCC MF und gemeinsam mit Dr. Markus Krebs Erstautorin der Publikation. 

Das RET-Gen kodiert normalerweise für ein Protein, das bei Zellprozessen wie Wachstum und Differenzierung eine Rolle spielt. Wenn das RET-Gen jedoch mit einem anderen Gen fusioniert, kann dies zu einer abnormalen Aktivierung des RET-Proteins und damit zu unkontrolliertem Zellwachstum und Krebs führen. Ein RET-Inhibitor blockiert die Aktivität dieses abnormalen Proteins und kann so das Tumorwachstum gezielt hemmen. Seit 2024 ist der RET-Inhibitor Selpercatinib von der Europäischen Arzneimittelagentur als Monotherapie für Patientinnen und Patienten mit entsprechend genetisch veränderten Tumoren zugelassen. Die Zulassung basiert auf den Ergebnissen der laufenden Phase-I/II-Studie LIBRETTO-001, an der auch das CCC MF beteiligt ist. Und eben in diese Studie konnte der Patient erfolgreich eingeschlossen werden.

Erfolgreiche Synthese von präzisionsmedizinischen Ansätzen und digitalen Biomarkern

„Bereits wenige Tage nach Beginn der Therapie spürte der Patient eine deutliche Besserung. Die tastbaren Lymphknoten und Weichteilmetastasen waren geschrumpft, er benötigte weniger Morphium und keine Gehhilfe mehr“, berichtet der Projektleiter der Studie, Privatdozent Dr. Vivek Venkataramani. Er war der erste Patient des Onkologen, der seit Mai 2023 das Team der ISZ verstärkt. Bei diesem Fall sei der Vergleich „wie Phönix aus der Asche“ durchaus berechtigt. Denn so einen Fall sehe man in der Onkologie selten. „Das Monitoring mit der Smartwatch unterstrich den Einfluss von Selpercatinib auf die deutlich verbesserte Lebensqualität und bestätigte die Wirksamkeit der Therapie durch verbesserte körperliche Leistungsindikatoren. Die Messung der Schrittzahl und der Herzfrequenz lieferte einen Echtzeit-Einblick in das Aktivitätsniveau und die physiologischen Reaktionen des Patienten.“

Als der Patient seine drei Chemotherapien erhielt, ging jeder Wechsel mit einer Abnahme der Schrittzahl einher, was den zunehmenden Einfluss der Krankheit und der Nebenwirkungen der Behandlung widerspiegelte. Im Gegensatz dazu markierte die Einführung von Selpercatinib eine positive Wende mit einer klaren und schnellen Zunahme der Schrittzahl, was auf eine verbesserte Mobilität und ein Ansprechen auf die Therapie hindeutete. Gleichzeitig wies eine signifikante Abnahme der durchschnittlichen Ruheherzfrequenz auf eine verringerte systemische Belastung und eine Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustands hin.

Der Zustand des Patienten ist seit über einem Jahr stabil, es sind nur noch minimale Restbefunde vorhanden. Er hat keine Schmerzen mehr, nimmt wieder aktiv am Leben teil, treibt Sport, hat einen deutlich besseren Appetit und sein Gewicht hat sich normalisiert.

Fallbericht motiviert Forschende und Behandelnde 

„Unser Fallbericht zeigt, wie moderne Technologien, insbesondere Smartwatches, in der personalisierten Medizin eingesetzt werden können, um Behandlungserfolge schneller und präziser sichtbar zu machen – nicht nur für die Behandelnden, sondern auch für Patientinnen und Patienten“, sagt Vivek Venkataramani. Für die Betroffenen böten diese Geräte die Chance, mögliche körperliche Frühwarnzeichen kontinuierlich zu erfassen und selbstständig im Auge zu behalten. Der Mediziner, der Fallbeispiele wie diese regelmäßig in seinen Vorlesungen „Neues aus der Präzisionsonkologie“ bringt, plant, künftig auch tragbare Technologien, so genannte Wearables, in klinische und akademische Studien zu integrieren und zu evaluieren. 

Barbara Deschler-Baier betont, dass der Fallbericht eine enorme Motivation für Forschende und Behandelnde sei, die personalisierte Diagnostik und Therapie weiter zu verfeinern und möglichst vielen Patientinnen und Patienten zugänglich zu machen: „Genveränderungen wie Fusionen im RET-Gen konnten gelegentlich die Ursache für die Entstehung verschiedener Krebsarten und bieten ideale Angriffspunkte für Präzisionsmedikamente, die gezielt Krebszellen bekämpfen und gesunde Zellen schonen. Fallberichte wie dieser zeigen das Potenzial einer hochmodernen, zielgerichteten Krebstherapie.“

Weiterentwicklung der Präzisionsonkologie

Weltweit und insbesondere in der Universitätsmedizin Würzburg mit dem CCC MF, dem Zentrum für Personalisierte Medizin (ZPM) einschließlich des Molekularen Tumorboards, der Interdisziplinären Studienambulanz (ISZ) und der Early Clinical Trial Unit (ECTU) sowie den Partnern in Erlangen, Regensburg und Augsburg im Rahmen der WERA-Allianz wird mit Hochdruck daran gearbeitet, die Genauigkeit und Wirksamkeit der Krebsbehandlung durch neue innovative Diagnostik und Therapien weiter zu verbessern und möglichst vielen Krebskranken zugänglich zu machen. 
Wichtige Punkte sind dabei die Intensivierung der molekulargenetischen Testung und der Ausbau der molekulargenetischen Analysen. „In unserem interdisziplinären Expertengremium, dem Molekularen Tumorboard, werden jährlich rund 400 Patientenfälle vorgestellt“, berichtet Dr. Markus Krebs, Arzt im Molekularen Tumorboard am UKW. „Durch unsere enge Vernetzung mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten in der Region und die Kooperationen im CCC WERA und NCT WERA sowie den bayern- und bundesweiten Konsortien wie dem Bayerischen Zentrum für Krebsforschung (BZKF) und dem Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) steht die Präzisionsonkologie am UKW immer mehr Patientinnen und Patienten zur Verfügung.“

Publikation:
Deschler-Baier, B.*, Krebs, M* et al. Rapid response to selpercatinib in RET fusion positive pancreatic neuroendocrine carcinoma confirmed by smartwatch. npj Precis. Onc. 8, 167 (2024). https://doi.org/10.1038/s41698-024-00659-x * geteilte Erstautorenschaft 
 

Text: Kirstin Linkamp / UKW 

 

Die Grafik zeigt einen Arm mit Smartwatch und Stufen des Krankheits- und Therapieverlaufs, außerdem ist ein QR-Code zur Studie eingeblendet.
Durch den Einsatz modernster Molekulardiagnostik und personalisierter Krebstherapie konnte ein 56-jähriger Patient mit einem seltenen Bauchspeicheldrüsenkrebs schnelle Fortschritte erzielen. Die Smartwatch spielte dabei eine entscheidende Rolle: Sie überwachte den Krankheitsverlauf engmaschig und erkannte den Therapieerfolg der personalisierten Behandlung durch Analyse von Herzfrequenz und Bewegungsdaten. Diese frühzeitige Erkennung von Verbesserungen ermöglichte eine präzise Anpassung der Therapie, noch bevor herkömmliche Tests Veränderungen zeigten. Ein beeindruckendes Beispiel für die Zukunft der personalisierten Medizin. © Alankreeta Bharali / Vivek Venkataramani
Porträtfoto von Privatdozent Dr. med. Vivek Venkataramani im weißen Kittel
Privatdozent Dr. Vivek Venkataramani ist Arzt für das Molekulare Tumorboard im Zentrum für Personalisierte Medizin des Uniklinikums Würzburg. © Jonas Hahn / Vivek Venkataramani