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Was T-Zellen im Tumor müde macht

DETAILLIERTE ANALYSE IM JOURNAL BLOOD VON EXTRAMEDULLÄREN LÄSIONEN BEIM MULTIPLEN MYELOM UND NEUE THERAPIEANSÄTZE

Die extramedulläre Erkrankung (EMD) ist ein Hochrisikofaktor beim Multiplen Myelom. Angela Riedel und Leo Rasche vom Uniklinikum Würzburg haben die Mikroumgebung dieser Myelomzellen außerhalb des Knochenmarks erstmals detailliert analysiert und ihre bahnbrechenden Erkenntnisse in der Fachzeitschrift Blood publiziert. Die Studie zeigt, warum EMD so schlecht auf gängige Immuntherapien anspricht und welche neuen therapeutischen Möglichkeiten in Frage kommen, um auch diese Läsionen erfolgreich bekämpfen zu können.

 

Das Titelbild der Ausgabe von blood zeigt eine mikroskopische Aufnahme einer Myelomläsion.
Mit einem Immunfluoreszenzbild einer kutanen extra-medullären Myelomläsion haben es Angela Riedel und Leo Rasche und ihre Arbeitsgruppen auf das Cover der Fachzeitschrift Blood der American geschafft. Die grünen Bereiche zeigen Zellen, die das Protein CD3e tragen, was typischerweise auf T-Zellen hinweist. Die roten Bereiche markieren Zellen mit CD138, ein Zeichen für Plasmazellen, die bei Myelomen eine wichtige Rolle spielen. Die blauen Bereiche stellen Kollagen I dar, ein Strukturprotein, das in der Haut vorkommt. © Mara John und Angela Riedel / American Society of Hematology
Copy Number Variations sind in verschiedenen Farben dargestellt.
Hier wurde die Anzahl der vorhergesagten Copy Number Variations (CNVs) in verschiedenen Bereichen des Gewebes, so genannten spots, im Rahmen der räumlichen Transkriptomatik analysiert. CNVs sind genetische Veränderungen, bei denen bestimmte Abschnitte der DNA entweder vervielfältigt oder gelöscht sind. Dies führt dazu, dass sich die Anzahl der Kopien bestimmter Gene oder DNA-Abschnitte zwischen verschiedenen Proben unterscheidet. © Moutaz Helal
Gruppenbild draußen auf der Terrasse vor dem UKW, Angela Riedel und Leo Rasche sitzen in der Mitte, außen stehen Mara John und Moutez Helal.
Die beiden Erstautoren Mara John (links) und Moutaz Helal (rechts) mit den beiden Letztautoren Angela Riedel und Leo Rasche. © UKW

Würzburg. Schon die Diagnose Multiples Myelom allein ist ein schwerer Schlag für die Betroffenen. Denn die Blutkrebserkrankung, bei der verschiedene bösartige Tumorherde im Knochenmark auftreten, ist bis heute nicht heilbar. Dank zahlreicher Therapiemöglichkeiten kann das Fortschreiten der Erkrankung jedoch über einen längeren Zeitraum verhindert und die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten verbessert werden. Wenn sich die Tumorzellen jedoch außerhalb des Knochenmarks ausbreiten und in andere Gewebe und Organe eindringen, erschwert dies die Behandlung. Denn viele Erkrankte mit diesen sogenannten extramedullären Läsionen (kurz EMD für extramedullary disease) sprechen auch auf moderne Immuntherapien mit CAR-T-Zellen oder bispezifischen Antikörpern nicht mehr an. 

Warum ist das so? Dr. Angela Riedel und Prof. Dr. Leo Rasche vom Uniklinikum Würzburg (UKW) haben sich mit ihren Juniorgruppen am Mildred-Scheel-Nachwuchszentrum (MSNZ) die Tumorzellen außerhalb des Knochenmarks genauer angeschaut und mit Hilfe der räumlichen und Einzelzell-Transkriptomik erstmals die detaillierte Mikroumgebung von 14 EMD-Läsionen untersucht. Ihre bahnbrechenden Ergebnisse wurden jetzt in der Fachzeitschrift Blood der American Society of Hematology als Titelstory veröffentlicht. Das Cover ziert ein Immunfluoreszenzbild einer kutanen EMD, bei der T-Zellen mit dem Protein CD3e grün, Plasmazellen mit CD138 rot und das Kollagen der Haut I blau markiert sind. 

Immunzellen dringen in Tumoren ein, sind aber oft in ihrer Funktion gestört 

„Die Infiltration von Immun- und Stromazellen war sowohl innerhalb als auch zwischen den Patientinnen und Patienten sehr unterschiedlich“, schildert Angela Riedel. Das bedeutet, dass der Tumor und das umliegende Gewebe bei jeder Patientin und jedem Patienten anders auf das Immunsystem reagieren, was zeigt, wie komplex und individuell die Krankheit verläuft. Die Biomedizinerin nennt ein Beispiel: „Wir konnten beobachten, dass T-Zellen zwar in die EMD-Läsion einwandern können, aber in einen erschöpften Zustand geraten, sobald sie in die Nähe der Myelomzellen kommen.“ Die ermüdeten weißen Blutkörperchen des Immunsystems verlieren also ihre Fähigkeit, die Krebszellen zu bekämpfen. Aktive T-Zellen fanden sich meist außerhalb der Läsion in tumorfreiem Gewebe zusammen mit spezifischen Makrophagen-Subtypen, die ebenfalls eine Rolle in der Immunantwort spielen. 

Bei Erkrankten, die gut auf eine Therapie mit bispezifischen T-Zell-Antikörpern ansprachen - das sind Antikörper, die mit einem Arm an das Oberflächenmerkmal der Immunzelle und mit dem anderen Arm an das der Tumorzelle binden, um die Immunzellen zur Tumorzelle zu leiten und diese zu zerstören - war der Unterschied zwischen erschöpften und aktiven T-Zellen nicht mehr feststellbar. 

Multizelluläres Ecosystem

Die Forschenden vermuten zudem eine genomische Instabilität innerhalb der Läsion, da die Myelomzellen Variationen in der Kopienzahl der Chromosomen sowie neue Subklone in bestimmten Tumorbereichen aufwiesen. Die Tumorzellen wiesen also ein Mosaik genetischer Vielfalt auf, das sie schwer behandelbar machen könnte.

„Bislang ging man davon aus, dass EMD nur aus Plasmazellen besteht, doch wir zeigen, dass es sich dabei um eine multizelluläre Umgebung handelt“, resümiert Angela Riedel.

Einsatz von Checkpoint-Inhibitoren als therapeutische Strategie gegen EMD

Leo Rasche zufolge sind diese Ergebnisse von großer klinischer Bedeutung, da das Vorhandensein von ermüdeten T-Zellen bei Fällen beobachtet wurde, die nicht auf bispezifische T-Zell-adressierende Antikörper ansprachen. „Die von uns identifizierten erschöpften T-Zellen exprimierten die Oberflächenmoleküle TIM3 und PD-1, was prinzipiell für eine immunologische Checkpoint-Therapie spricht, die auf diese Moleküle abzielen. Obwohl Checkpoint-Inhibitoren beim Multiplen Myelom bisher nicht erfolgreich waren, könnten sie bei Erkrankungen mit EMD-Läsionen erneut getestet werden, möglicherweise auch in Kombination mit bispezifischen Antikörpern“, rät Leo Rasche. 

Hämatologisch-onkologische Mischformen

Der Oberarzt weist auf einen weiteren Aspekt der Studie hin, nämlich dass das Multiple Myelom im Grunde ein Hybrid zwischen hämatologischen und soliden Krebserkrankungen ist. „Die Ähnlichkeiten zur soliden Onkologie hätten wir ohne unsere neue Methode, die Spatial Transcriptomics, nicht gefunden“, sagt Rasche. Spatial Transcriptomics ermöglicht es, die Genaktivität in einem Gewebeschnitt zu analysieren und diese Information mit der räumlichen Position der Zellen zu verknüpfen. So lässt sich nachvollziehen, welche Gene in welchen Bereichen des Gewebes an- oder abgeschaltet sind und wie diese Gene das Verhalten der Zellen in ihrer Umgebung beeinflussen. Solche Einblicke in die Tumorbiologie dieser Variante des Myeloms sind besonders wichtig. Immerhin nimmt die Häufigkeit von EMD beim Multiplen Myelom zu. „Die Läsionen finden sich inzwischen bei jedem dritten Patienten im Rezidiv“, bemerkt Rasche.

Wie geht es weiter? In den nächsten Schritten will das Team Knochenmarkbiopsien auf räumlicher Ebene analysieren, um zu verstehen, was genau der Unterschied zwischen dem Multiplen Myelom im Knochenmark und den extramedullären Läsionen ist. Die große Frage ist, ob die Ergebnisse von den extramedullären Läsionen auf das Knochenmark übertragbar sind.

Kooperationen und Förderungen

Die Publikation ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen einer deutschen und tschechischen Gruppe, zu der das Mildred-Scheel-Nachwuchszentrum (MSNZ) Würzburg, die Medizinische Klinik und Poliklinik II des UKW, die Pathologie der Universität Würzburg, das Helmholtz-Institut für RNA-basierte Infektionsforschung (HIRI), das Münchner Leukämielabor (MLL) und die Abteilung für Hämatoonkologie der Universität von Ostrava gehören.

Das Forschungsprojekt wurde von der Deutschen Krebshilfe über das MSNZ-Programm, von der Else Kröner-Fresenius-Stiftung (EKFS) über das Forschungskolleg TWINSIGHT, vom Interdisziplinären Zentrum für Klinische Forschung (IZKF) über das Projekt Z-12 und vom tschechischen Gesundheitsforschungsrat gefördert.

Publikation: 

John M, Helal M, Duell J, Mattavelli G, Stanojkovska E, Afrin N, Leipold AM, Steinhardt MJ, Zhou X, Žihala D, Anilkumar Sithara A, Mersi J, Waldschmidt JM, Riedhammer C, Kadel SK, Truger M, Werner RA, Haferlach C, Einsele H, Kretzschmar K, Jelínek T, Rosenwald A, Kortüm KM, Riedel A, Rasche L. Spatial transcriptomics reveals profound subclonal heterogeneity and T-cell dysfunction in extramedullary myeloma. Blood. 2024 Nov 14;144(20):2121-2135. doi: 10.1182/blood.2024024590. PMID: 39172759.

Text: Kirstin Linkamp / UKW
 

Das Titelbild der Ausgabe von blood zeigt eine mikroskopische Aufnahme einer Myelomläsion.
Mit einem Immunfluoreszenzbild einer kutanen extra-medullären Myelomläsion haben es Angela Riedel und Leo Rasche und ihre Arbeitsgruppen auf das Cover der Fachzeitschrift Blood der American geschafft. Die grünen Bereiche zeigen Zellen, die das Protein CD3e tragen, was typischerweise auf T-Zellen hinweist. Die roten Bereiche markieren Zellen mit CD138, ein Zeichen für Plasmazellen, die bei Myelomen eine wichtige Rolle spielen. Die blauen Bereiche stellen Kollagen I dar, ein Strukturprotein, das in der Haut vorkommt. © Mara John und Angela Riedel / American Society of Hematology
Copy Number Variations sind in verschiedenen Farben dargestellt.
Hier wurde die Anzahl der vorhergesagten Copy Number Variations (CNVs) in verschiedenen Bereichen des Gewebes, so genannten spots, im Rahmen der räumlichen Transkriptomatik analysiert. CNVs sind genetische Veränderungen, bei denen bestimmte Abschnitte der DNA entweder vervielfältigt oder gelöscht sind. Dies führt dazu, dass sich die Anzahl der Kopien bestimmter Gene oder DNA-Abschnitte zwischen verschiedenen Proben unterscheidet. © Moutaz Helal
Gruppenbild draußen auf der Terrasse vor dem UKW, Angela Riedel und Leo Rasche sitzen in der Mitte, außen stehen Mara John und Moutez Helal.
Die beiden Erstautoren Mara John (links) und Moutaz Helal (rechts) mit den beiden Letztautoren Angela Riedel und Leo Rasche. © UKW

„Entscheidungsrauschen“ ist kein Messfehler

ABNAHME INKONSISTENTER ENTSCHEIDUNGEN VOM JUGEND- ZUM ERWACHSENENALTER VERMITTELT ZUNAHME KOGNITIVER KOMPETENZ

Die Arbeitsgruppe “Kognitive Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie“ des Universitätsklinikums Würzburg stellt in der Fachzeitschrift PLOS Biology erstmals die Entwicklung verrauschter Entscheidungen der Entwicklung spezifischer kognitiver Prozesse gegenüber. Es zeigte sich, dass eine altersabhängige Zunahme spezifischer und komplexer kognitiver Prozesse nicht nur mit einer Abnahme „verrauschter“ inkonsistenter Entscheidungen einhergeht, sondern sogar von dieser Abnahme abhängt.

 

Lorenz Deserno und Vanessa Scholz vor alten Torbogen des Zentrums für Psychische Gesundheit.
Dr. Vanessa Scholz und Prof. Dr. Lorenz Deserno, Leiter der Arbeitsgruppe “Kognitive Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie" an der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Würzburg (UKW), zeigen in ihrer neuesten Studie, dass die Zunahme der Komplexität von Prozessen und die Abnahme des Entscheidungsrauschens proportional zusammenhängen. © Kirstin Linkamp / UKW
Kinder und Jugendliche treffen oft impulsive und inkonsistente Entscheidungen, zum Beispiel bei der Auswahl einer Eissorte. Erwachsene hingegen entscheiden überlegter. Die Arbeitsgruppe “Kognitive Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie“ des Universitätsklinikums Würzburg fand heraus, dass die Fähigkeit zu überlegtem Entscheiden im Jugendalter zunimmt und impulsive Entscheidungen abnehmen. Diese Entwicklung könnte wichtig für komplexere kognitive Prozesse sein, wie in ihrer Studie in PLOS Biology beschrieben. © UKW

Würzburg. Wer kennt sie nicht, die Qual der Wahl, zum Beispiel in der Eisdiele. Nehme ich meine Lieblingssorte oder probiere ich etwas Neues, vielleicht sogar etwas ganz Exotisches. Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist dieses so genannte Entscheidungsrauschen besonders groß. Bei einer Fehlentscheidung oder einem „Igitt!“ reagieren die Eltern meist mit „Das war doch klar. Das hätte ich dir gleich sagen können.“ Eben weil Erwachsene in der Regel überlegter und vorausschauender entscheiden.

Altersabhängige Abnahme inkonsistenter Entscheidungen könnte Voraussetzung für Entwicklung komplexer kognitiver Prozesse sein

Prof. Dr. Lorenz Deserno, Leiter der Arbeitsgruppe “Kognitive Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie" an der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Würzburg (UKW), bezeichnet diese verrauschten Entscheidungen auch als explorative oder inkonsistente Entscheidungen. Sie nehmen im Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter kontinuierlich ab, während spezifische und komplexe kognitive Prozesse zunehmen. Neueste Forschungsergebnisse seiner Arbeitsgruppe, die jetzt in der Fachzeitschrift PLOS Biology veröffentlicht wurden, legen sogar nahe, dass die altersabhängige Abnahme inkonsistenter Entscheidungen eine Voraussetzung für die Entwicklung komplexer kognitiver Prozesse sein könnte. 

„Bisherige Studien haben inkonsistente Entscheidungen oft ignoriert und als Messfehler abgetan. Wir haben uns aber die Rauschkomponenten, die sich aus fast allen Verhaltensexperimenten extrahieren lassen, genauer angeschaut“, berichtet Lorenz Deserno. Dazu hat seine Mitarbeiterin Dr. Vanessa Scholz die Daten von 93 Männern und Frauen im Alter von 12 bis 42 Jahren ausgewertet, die am Computer drei verschiedene Aufgaben lösen mussten: spielerische Aufgaben, die die Annäherung an Belohnung und Bestrafung testen sowie Aufgaben zum Umlernen von Entscheidungen und zur Planung von Entscheidungen. „In solchen Experimenten sehen wir, wie die Studienteilnehmenden aufeinander folgende Entscheidungen planen, wie schnell sie sich anpassen, wenn sich der Zusammenhang zwischen Entscheidung und Ereignis plötzlich ändert, und wie die Entscheidungen von positiven und negativen Ereignissen abhängen“, schildert Vanessa Scholz.

„Computational Psychiatry“

Bevor die Psychologin vor vier Jahren nach Würzburg in die Arbeitsgruppe von Lorenz Deserno kam, arbeitete sie als Postdoktorandin in den Niederlanden im Bereich der Verhaltensmodellierung. Dabei geht es darum, menschliches Verhalten und kognitive Prozesse mit Hilfe von mathematischen Modellen und Computersimulationen zu verstehen. Bei der Verhaltensmodellierung ist nicht allein das konkrete Ergebnis ausschlaggebend, also welche Entscheidung getroffen wurde, sondern wie es zu dieser Entscheidung gekommen ist, was psychologisch und biologisch passiert ist, dass ich mich zwischen A und B entschieden habe. „Jedes Modell bildet verschiedene Prozesse ab und stellt eine Hypothese dar. So baue ich aus ganz einfachen Modellen immer komplexere Modelle“, erklärt Vanessa Scholz. Und das sei in der Entwicklungspsychiatrie besonders spannend. „Denn mit den Modellen können wir in unserem Fall ganz konkret verschiedene Entscheidungswege vergleichen und zum Beispiel reflektierte von verrauschten Prozessen trennen.“

„Computational Psychiatry“ ist das Stichwort. Dieser Forschungsansatz, bei dem Methoden der theoretischen Computational Neuroscience direkt mit der Psychiatrie verknüpft werden, ist in der Kinder- und Jugendpsychiatrie relativ neu. Weltweit gibt es nur vereinzelte Arbeitsgruppen, die diesen Forschungsansatz in der Entwicklungspsychiatrie anwenden. „Hier hat Würzburg fast ein Alleinstellungsmerkmal“, betont Lorenz Deserno. Der Mediziner hat sich bereits in London intensiv mit Computational Psychiatry beschäftigt, bevor er nach Würzburg ans Zentrum für Psychische Gesundheit kam.

Das Inkonsistente war bei allen drei Experimenten konsistent

Vanessa Scholz erklärt, was ihre aktuellen Modellierungen ergeben haben: „Das Niveau des Rauschens pro Individuum war über die drei Experimente sehr konsistent. Das zeigt uns, dass das Rauschen keine gezielte Exploration ist, sondern hier noch eine kontextunabhängige Eigenschaft. Diese Eigenschaft sollte im Laufe der Entwicklung abnehmen, weil man ja eigentlich kontextadaptiveres Verhalten erlernen will.“ So können die meisten Erwachsene besser vorausdenken, planen und sich anpassen als Jugendliche, weil ihre kognitiven Fähigkeiten in der Regel ausgereifter sind.

Welche klinische Relevanz hat das Rauschen?

In allen Experimenten beobachteten die Forschenden eine altersabhängige Zunahme der komplexen kognitiven Prozesse. Der stärkere Effekt war jedoch die Abnahme des Entscheidungsrauschens. Völlig neu an dieser Arbeit ist, dass die Forschenden diese beiden Stränge zusammengeführt haben und zeigen konnten, dass sie proportional zusammenhängen: Die Zunahme der Komplexität von Prozessen scheint von der Abnahme des Entscheidungsrauschens abhängig zu sein. Das Entscheidungsrauschen hätte also eine Bedeutung für die altersabhängige Entwicklung. Lorenz Deserno folgert daraus: „Inkonsistente Entscheidungen könnten der Erkundung oder dem Ausprobieren neuer Verhaltensweisen und Kontexte dienen und damit eine gesunde Entwicklung spezifischer und komplexer kognitiver Prozesse ermöglichen. Wenn Entscheidungen jedoch zu oft inkonsistent bleiben, kann dies die Entwicklung komplexer kognitiver Prozesse und des Gehirns negativ beeinflussen.

Kognitive Kompetenz bei ADHS stärken oder Rauschen reduzieren?

Das könnte zum Beispiel für Menschen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, relevant sein. So untersucht das Team derzeit, ob inkonsistente Entscheidungen bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS eine zentrale Rolle bei der Erkrankung spielen und möglicherweise ein Ansatzpunkt für verbesserte Therapien sein könnten. Ist die etwas reduzierte kognitive Leistung von Kindern mit ADHS eine Folge des Rauschens, oder ist das für Kinder mit ADHS typische sprunghafte eine Folge der reduzierten kognitiven Leistung? Sollte die kognitive Leistung des Kindes gestärkt oder das Rauschen reduziert werden, damit das Kind kognitiv stärker werden kann?

Generell wirft der Entscheidungsprozess, der eine Systemeigenschaft zu sein scheint, viele weitere Fragen auf. Zum Beispiel wäre es interessant, im Längsschnitt zu beobachten, wie schnell und wann genau das Rauschen abnimmt. Sind Menschen, bei denen das Rauschen schneller abnimmt, gesünder als andere oder umgekehrt? Was ist bei Erwachsenen noch Rauschen, was gezielte Exploration oder einfach Neugier, nach dem Motto: „Ich probiere heute ganz bewusst das Knoblaucheis mit Knallzucker“.


Publikation:

Vanessa Scholz, Maria Waltmann, Nadine Herzog, Annette Horstmann, Lorenz Deserno (2024) Decrease in decision noise from adolescence into adulthood mediates an increase in more sophisticated choice behaviors and performance gain. PLoS Biol 22(11): e3002877. https://doi.org/10.1371/journal.pbio.3002877

Kooperation und Förderung: 

Die Studie wurde in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig durchgeführt und unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). 

Text: Kirstin Linkamp / UKW 

Lorenz Deserno und Vanessa Scholz vor alten Torbogen des Zentrums für Psychische Gesundheit.
Dr. Vanessa Scholz und Prof. Dr. Lorenz Deserno, Leiter der Arbeitsgruppe “Kognitive Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie" an der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Würzburg (UKW), zeigen in ihrer neuesten Studie, dass die Zunahme der Komplexität von Prozessen und die Abnahme des Entscheidungsrauschens proportional zusammenhängen. © Kirstin Linkamp / UKW
Kinder und Jugendliche treffen oft impulsive und inkonsistente Entscheidungen, zum Beispiel bei der Auswahl einer Eissorte. Erwachsene hingegen entscheiden überlegter. Die Arbeitsgruppe “Kognitive Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie“ des Universitätsklinikums Würzburg fand heraus, dass die Fähigkeit zu überlegtem Entscheiden im Jugendalter zunimmt und impulsive Entscheidungen abnehmen. Diese Entwicklung könnte wichtig für komplexere kognitive Prozesse sein, wie in ihrer Studie in PLOS Biology beschrieben. © UKW

Klinische Genetik wird ausgebaut: Prof. Dr. Anke K. Bergmann neu an der Universitätsmedizin Würzburg

UKW wird Teil des bundesweiten Modellvorhabens zur Genomsequenzierung

Neu an der Universitätsmedizin Würzburg: Prof. Dr. Anke K. Bergmann.
Neu an der Universitätsmedizin Würzburg: Prof. Dr. Anke K. Bergmann. Foto: UKW / Anke K. Bergmann (privat)

Würzburg. Die Universitätsmedizin Würzburg stärkt die Genommedizin mit Professorin Anke Katharina Bergmann. Sie wurde auf die Professur für Klinische Genetik und Genommedizin an die Medizinische Fakultät berufen. Ihre Tätigkeit in Würzburg hat sie im September 2024 aufgenommen.

In der Krankenversorgung ist sie u.a. an das Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZESE) des Universitätsklinikums Würzburg (UKW) angebunden. Zuvor war sie stellvertretende Direktorin des Instituts für Humangenetik der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).

„Gemeinsam mit den anderen Fachdisziplinen möchte ich die Genommedizin noch stärker in die klinische Diagnostik, Prävention und Therapie integrieren. Durch eine genetische Diagnostik und eine klinische Interpretation der jeweiligen Erbinformationen können wir die Kolleginnen und Kollegen dabei unterstützen, Krankheitsbilder besser zu verstehen und so dazu beitragen, individuelle Therapien einzuleiten und ggf. zielgereichte Präventionsmaßnahmen für die Patienten und deren Angehörige anbieten“. Damit leiste die klinische Genetik wichtige Voraussetzungen für eine personalisierte Medizin und fördert somit die zukunftsorientierte Ausrichtung des Standorts Würzburg. 

Stärkung der personalisierten Medizin

Der Nutzen personalisierter Medizin zeige sich nicht nur bei den sogenannten „Seltenen“ Erkrankungen, sondern auch bei onkologischen Erkrankungen. Prof. Bergmann: „Speziell in der Krebsmedizin hat die Genomik stark an Bedeutung gewonnen.“ In Hannover baute sie u.a. die nationale genetische Referenzdiagnostik für die akute lymphatische Leukämie (ALL) im Kindesalter auf, der häufigsten Krebserkrankung bei Kindern. Diese Referenzdiagnostik wird nun mit Prof. Dr. Bergmann ebenfalls aus Hannover nach Würzburg wechseln. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt das EU-Projekt „CAN.HEAL“, das Teil des europäischen Krebsbekämpfungsplans (EBCP) und dessen Koordination Prof. Bergmann in Hannover inne hatte.

Am UKW stärkt Prof. Bergmann zudem die Teilnahme am bundesweiten Modellvorhaben zur Genomsequenzierung, das ein Ergebnis der Nationalen Strategie für Genommedizin ist. Dabei wird das Erbgut von Patientinnen und Patienten mit Verdacht auf eine Seltene erbliche Erkrankung oder Krebserkrankung sequenziert. Dieses Modellvorhaben ist auf fünf Jahre angelegt, aktuell beteiligen sich 27 Universitätskliniken daran. Prof. Bergmann: „Dadurch wird den Patientinnen und Patientinnen eine hochinnovative Diagnostik ermöglicht, gleichzeitig werden neue Erkenntnisse gewonnen, die dann auch auf weitere Krankheitsbilder übertragen werden können, um perspektivisch die Genomsequenzierung auch in die Regelversorgung zu übertragen. Genau diese Translation auch in die Grundlagenforschung und interdisziplinäre Zusammenarbeit ist für mich eine Stärke der Würzburger Universitätsmedizin.“ Das werde auch einen direkten Einfluss auf die innovative Patientenversorgung haben, so die Genommedizinerin: „Der große Vorteil an der interdisziplinären Verzahnung liegt darin, dass wir so die Sequenzierungsdaten des Erbgutes mit weitere klinischen und diagnostischen Daten zusammenführen können. Das unterstützt die behandelnden Ärztinnen und Ärzte in den Kliniken enorm.“

„Wichtiger Bestandteil der zukünftigen Medizin“

„Mit der Berufung von Prof. Dr. Bergmann und der kommenden Etablierung des Instituts für klinische Genetik und Genommedizin am UKW werden die bestehenden Möglichkeiten der personalisierten Diagnostik und Therapie konsequent ausgebaut. Damit stärkt sie die enorme Innovationskraft am UKW. Eine Genomsequenzierung kann für betroffene Patienten eine klare Diagnose und gegebenenfalls Therapiemöglichkeit ergeben und damit die Versorgungssituation erheblich verbessern“, betont PD Dr. Tim von Oertzen, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender am UKW. Prof. Dr. Matthias Frosch, Dekan der Medizinischen Fakultät in Würzburg, erklärt: „Die klinische Genetik ist ein elementarer Bestandteil für die zukünftige Medizin. Prof. Bergmann wird dieses Fachgebiet hier in Würzburg entscheidend voranbringen. Davon profitieren auch Forschungsprojekte unterschiedlicher Fachdisziplinen. Ebenso wird das Thema mit ihrer Berufung auch in der Lehre enorm gestärkt.“

Zur Person:

Anke Katharina Bergmann war nach ihrem Medizinstudium in Berlin und Paris und ihrer Promotion an der Charité zunächst an der Harvard Universität in Boston, USA, in der Kinderheilkunde tätig. Bereits damals beschäftigte sie sich mit der genetischen Grundlage von Blutkrankheiten. Danach war sie von 2009 bis 2018 am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Kiel in der Kinderheilkunde und der Humangenetik tätig und war in dieser Zeit auch zwischenzeitlich für Forschungsaufenthalte an der Radboud University in Nijmegen, Niederlande.  

Nach ihrer Habilitation und Facharztanerkennung wechselte sie an die Medizinische Hochschule Hannover. Ab 2019 übernahm sie die Leitung des diagnostischen Labors für postnatale (molekulare) Zytogenetik und Molekulargenetik u.a. für Leukämien & Lymphome, insbesondere auch die nationale genetische Referenzdiagnostik für kindliche Blutkrebserkrankungen. Zusätzlich etablierte sie ihre Forschungsgruppe Personalisierte Genomik. Im Jahr 2020 übernahm sie die Leitung des B-Zentrums seltener syndromaler Erkrankungen des Zentrums für seltene Erkrankungen und seit 2021 war sie stellvertretende Direktorin des Instituts für Humangenetik der MHH, eines der größten humangenetischen Institute Deutschlands.
 

Neu an der Universitätsmedizin Würzburg: Prof. Dr. Anke K. Bergmann.
Neu an der Universitätsmedizin Würzburg: Prof. Dr. Anke K. Bergmann. Foto: UKW / Anke K. Bergmann (privat)

Förderpreis für Schmerzforschung ging an Julia Grüner

Der Naturwissenschaftlerin aus der Würzburger Neurologie gelang es erstmalig, mit dem Team der AG Üçeyler aus Hautzellen von Fabry-Patienten Stammzellen zu erzeugen, die in Nervenzellen umgewandelt werden können. In der Petrischale konnte das Team beobachten, wie die Fettablagerungen die Nervenzellen beeinflussen. Diese Veränderungen könnten den Energiehaushalt der Zellen stören und so die für Fabry typischen Schmerzen verursachen.

Die Preisträgerin Julia Grüner mit Urkunde und umringt von ihrem Team.
Julia Grüner (4. v. l.) erhielt den diesjährigen Förderpreis für Schmerzforschung der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. Aus der Arbeitsgruppe von Nurcan Üçeyler (rechts) freuen sich mit ihr Franka Kunik, Aljosha Lang und Luisa Kreß (v. l.) © Luisa Kreß

Würzburg. Glückwunsch an Dr. rer. nat. Julia Grüner aus der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Nurcan Üçeyler, leitende Oberärztin in der Neurologie des Uniklinikums Würzburg. Sie erhielt am 17. Oktober 2024 beim Deutschen Schmerzkongresses in Mannheim den Förderpreis für Schmerzforschung. In der Kategorie ‚Klinische Forschung‘ wurde ihre Arbeit „Small fibre neuropathy in Fabry disease: a human-derived neuronal in vitro disease mod-el and pilot data“ mit dem zweiten Platz gewürdigt. Der Stifter des Preises, die Grünenthal GmbH, hat in diesem Jahr gleich zwei zweite Plätze vergeben, sodass sich Julia Grüner das Preisgeld von 3.500 Euro teilt. 

In ihrem Projekt geht es um die seltene Erbkankheit Morbus Fabry, die sich schleichend entwickelt und das Leben der Betroffenen erheblich beeinträchtigt. Bei Morbus Fabry verhindern Gendefekte dass das Enzym Alpha-Galaktosidase A richtig arbeitet. Dadurch sammeln sich Fettverbindungen, sogenannte Sphingolipide, in den Zellen an, unter anderem in Nervenzellen, aber auch in Organen wie Herz und Nieren. Erste Symptome wie brennende Schmerzen in Händen und Füßen treten oft schon in der Kindheit auf. Mit der Zeit verschlechtert sich zudem die Wahrnehmung von Temperatur. 

In der ausgezeichneten Arbeit gelang es erstmalig, aus Hautzellen von Fabry-Patienten Stammzellen zu erzeugen, die in Nervenzellen umgewandelt werden können. In der Petrischale konnte das Team beobachten, wie die Fettablagerungen die Nervenzellen beeinflussen. Diese Veränderungen könnten den Energiehaushalt der Zellen stören und so die für Fabry typischen Schmerzen verursachen. Eine besonders interessante Entdeckung war, dass bei erhöhten Temperaturen eine veränderte Aktivität der Nervenzellen vorliegt. Das könnte erklären, warum Betroffene oft besonders bei Fieber stärkere Schmerzen und eine gestörte Temperaturwahrnehmung haben. Diese Entdeckungen eröffnen neue Ansätze, die Mechanismen der Erkrankung besser zu verstehen und zukünftig gezielter behandeln zu können.

Mehr zur Studie, die bereits in Brain Communications (2024) veröffentlicht wurde, lesen Sie in der Pressemitteilung
 

Die Preisträgerin Julia Grüner mit Urkunde und umringt von ihrem Team.
Julia Grüner (4. v. l.) erhielt den diesjährigen Förderpreis für Schmerzforschung der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. Aus der Arbeitsgruppe von Nurcan Üçeyler (rechts) freuen sich mit ihr Franka Kunik, Aljosha Lang und Luisa Kreß (v. l.) © Luisa Kreß

Waldbaden bei krebsbedingter Fatigue und Depression

Naturräume und Naturerfahrungen wirken sich positiv auf die körperliche und seelische Gesundheit aus. Das Potenzial so genannter „Nature-based Therapies“ rückt daher zunehmend in den Fokus der Medizin. Insbesondere das „Waldbaden“ wird mit guten Ergebnissen erforscht. Ein Problem: Gerade den Patientinnen und Patienten, die besonders davon profitieren würden, fällt der Weg in den Wald schwer, weil sie zum Beispiel unter Erschöpfung oder depressionsbedingter Antriebslosigkeit leiden. Die Carstens-Stiftung fördert deshalb mit rund 750.000 Euro zwei innovative Projekte, die den Wald ein Stück weit zu den Menschen bringen - mit Hilfe von Virtual Reality, Hypnose und Imagination. Das Universitätsklinikum Würzburg ist an der FOREST-Studie beteiligt.

Das Foto zeigt einen Blick nach oben zu den Baumkronen im Laubwald.
Die Wirkung von Waldbaden bei krebsbedingter Fatigue und Depression wird in zwei von der Carstens-Stiftung geförderten Studien untersucht. © Kirstin Linkamp / UKW
Collage mit drei Porträtbildern der Verantwortlichen im Projekt FOREST
v.l.n.r.: PD Dr. med. Claudia Löffler (Foto: Stefan Bausewein), Dr. med. Marcela Winkler (Foto: Schmidt), Prof. Dr. rer. medic. Holger Cramer (Foto: Beate Armbruster, ©Universitätsklinikum Tübingen)

Essen/Würzburg. Vier von fünf Menschen, die eine onkologische Erkrankung überlebt haben, leiden noch Jahre nach Abschluss der Therapie unter den biopsychosozialen Folgen. Zu den häufigsten Symptomen gehört die krebsbedingte Erschöpfung (cancer-related fatigue) mit negativen Auswirkungen auf die Schlafqualität und weiteren direkten Beziehungen zu emotionalen und kognitiven Symptomen. Zu letzteren gehören auch Depressionen. 

Waldbaden als vielversprechender Therapieansatz

Auf der Suche nach nicht-pharmakologischen Behandlungsansätzen kristallisieren sich zunehmend naturheilkundliche Therapien, insbesondere das Waldbaden, als vielversprechend heraus. Erste positive Effekte konnten u.a. auf Schlafstörungen, Fatigue, Depressivität, Ängstlichkeit, Konzentrationsstörungen, Stressempfinden und Lebensqualität nachgewiesen werden. Dabei scheinen der Ort und die Sinneswahrnehmungen eine entscheidende Rolle zu spielen. 

Menschen mit krebsbedingter Fatigue oder Depression würden also vermutlich in hohem Maße vom Waldbaden profitieren - allerdings fällt der Weg in den Wald gerade wegen der Erschöpfung und Antriebslosigkeit auch besonders schwer, ganz zu schweigen von den räumlichen Entfernungen in einem städtisch geprägten Umfeld. Mit finanzieller Unterstützung der gemeinnützigen Karl und Veronica Carstens-Stiftung nehmen sich nun zwei innovative Projekte genau dieser Problematik an. Die Stiftung des ehemaligen Bundespräsidenten und seiner Frau setzt sich seit mehr als 40 Jahren für die Verankerung von Naturheilverfahren und Komplementärmedizin in der medizinischen Forschung und Patientenversorgung ein. 

FOREST – Studie zum Waldbaden bei krebsbedingter Fatigue

Naturheilverfahren in der Onkologie sind ein Thema, mit dem sich Privatdozentin Dr. Claudia Löffler am Uniklinikum Würzburg intensiv beschäftigt. Die Oberärztin leitet am Comprehensive Cancer Center Mainfranken (CCC MF) seit 2016 den Schwerpunkt Komplementäre Onkologie Integrativ (KOI). Unter dem Akronym FOREST führt sie nun gemeinsam mit Dr. Marcela Winkler (Robert Bosch Centrum für Integrative Medizin und Gesundheit, Stuttgart) und Prof. Dr. Holger Cramer (Universitätsklinikum Tübingen) und ihren Teams an den Standorten Würzburg und Stuttgart eine randomisierte kontrollierte Studie zum Waldbaden bei krebsbedingter Fatigue durch.

Es sind vier Arme geplant. Insgesamt werden 172 Patientinnen und Patienten randomisiert, d.h. durch einen Zufallsmechanismus einer von drei Interventionsgruppen oder einer Wartekontrollgruppe zugeteilt. Verglichen werden reales Waldbaden (Arm 1), mittels Virtual-Reality-Brille simuliertes Waldbaden (Arm 2), imaginiertes Waldbaden (Arm 3) und keine Intervention (Arm 4). Die Studienteilnehmenden von Arm 1 werden sich in Laubmischwäldern aufhalten, für die Arme 2 und 3 wird eine eigene Mischung ätherischer Öle entsprechend der Baumarten zusammengestellt, um eine bessere Vergleichbarkeit des Erlebnisses zu erreichen. Die Applikation erfolgt während der VR-Simulation bzw. Imagination über Aromazerstäuber. Die Interventionen sollen jeweils 30 Minuten dauern und einmal wöchentlich über einen Zeitraum von acht Wochen durchgeführt werden.

Der primäre Zielparameter ist die Symptomreduktion im Hinblick auf ein Cluster aus krebsbedingter Fatigue und den assoziierten Variablen Schlaf, Depressivität und Konzentration, die mittels multivariabler Varianzanalyse untersucht werden. Es wird vier Messzeitpunkte geben: Vor der Intervention, nach der Hälfte der Intervention, nach der Intervention und zwei Monate nach Ende der Intervention. Neben validierten Fragebögen werden Blutuntersuchungen und so genannte Wearables zur Erfassung von Vitalparametern eingesetzt.

NatureDeep - naturfokussierte Achtsamkeitsübungen und Hypnose bei Depression

Im zweiten Projekt NatureDeep konzentriert sich ein Team der Charité - Universitätsmedizin Berlin auf die Wirkung von naturfokussierten Achtsamkeitsübungen und Hypnose bei Depressionen.135 Patientinnen und Patienten mit leichten bis mittelschweren Depressionen werden in drei Gruppen randomisiert. Die erste Gruppe führt naturfokussierte Achtsamkeitsübungen im Berliner Stadtwald durch, die zweite Gruppe imaginiert unter Hypnose eine vergleichbare Natur und führt die gleichen Achtsamkeitsübungen in einem Trancezustand durch. In beiden Gruppen erhalten die Teilnehmenden weiterhin ihre bestehende Routineversorgung wie Psychotherapie und/oder antidepressive Medikamente. Für beide Interventionen sind wöchentliche Gruppensitzungen von jeweils 90 Minuten Dauer über einen Zeitraum von insgesamt acht Wochen vorgesehen. Zusätzlich werden die Teilnehmenden angehalten, die Übungen mindestens dreimal pro Woche für jeweils 30 Minuten selbständig durchzuführen. Die dritte Gruppe dient als Kontrolle und wird lediglich die Routineversorgung fortführen, jedoch keine naturheilkundliche Intervention erhalten.

Ergebnisse aus beiden Projekten werden in drei Jahren erwartet

Mit der Auswahl und Zusammenstellung der Interventionen soll eine Brücke zwischen traditionellen Verfahren, Mind-Body-basierten Interventionen und modernsten Technologien geschlagen werden. Ziel ist es, mittelfristig möglichst vielen Patientinnen und Patienten ein auf ihre individuelle Situation zugeschnittenes, effektives Werkzeug für die eigene Gesundheit an die Hand geben zu können. Die Ergebnisse beider Projekte werden in drei Jahren erwartet.

Zur ausführlichen Pressemeldung der Carstens-Stiftung.

Das Foto zeigt einen Blick nach oben zu den Baumkronen im Laubwald.
Die Wirkung von Waldbaden bei krebsbedingter Fatigue und Depression wird in zwei von der Carstens-Stiftung geförderten Studien untersucht. © Kirstin Linkamp / UKW
Collage mit drei Porträtbildern der Verantwortlichen im Projekt FOREST
v.l.n.r.: PD Dr. med. Claudia Löffler (Foto: Stefan Bausewein), Dr. med. Marcela Winkler (Foto: Schmidt), Prof. Dr. rer. medic. Holger Cramer (Foto: Beate Armbruster, ©Universitätsklinikum Tübingen)

Computer Vision-Technologien: Revolution für Diagnose und Verlaufsbeurteilung der Parkinson-Krankheit?

Dr. Maximilian U. Friedrich, Assistenzarzt und Wissenschaftler an der Neurologischen Klinik und Poliklinik des Uniklinikums Würzburg (UKW), erhält auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Berlin den mit 50.000 Euro dotierten „NeuroTech-Innovationspreis“ der Manfred und Ursula Müller-Stiftung und der DGN. Ausgezeichnet werden seine Forschungsarbeiten zur KI-basierten Videoanalyse in der Neurologie, insbesondere bei Bewegungsstörungen wie der Parkinson-Krankheit.

Maximilian Friedrich posiert vor blauer Wand mit DGN-Logos und hält seine Urkunde in die Kamera.
Dr. Maximilian U. Friedrich, Assistenzarzt und Wissenschaftler an der Neurologischen Klinik und Poliklinik des UKW, erhielt auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Berlin den mit 50.000 Euro dotierten „NeuroTech-Innovationspreis“ der Manfred und Ursula Müller-Stiftung und der DGN. © DGN/Claudius Pflug
Preisträger und Verleihende posieren vor DGN-Werbewand
Verleihung des NeuroTech-Innovationspreises, v.l.n.r. DGN-Präsident Prof. Dr. Lars Timmermann, Kuratoriumsmitglied Katja Engelbert, Preisträger Dr. Maximilian Friedrich, Stifterin Ursula Müller und Dr. Laura Hausmann vom Deutschen Stiftungszentrum. © DGN/Claudius Pflug
Maximilian Friedrich hält den Daumen hoch, auf der Hand leuchten zahlreiche Analysemarker in grün, die mit roten Strichen verbunden sind.d
Dr. Maximilian U. Friedrich hat seine Hand mit Computer Vision Analysemarkern überlagert, wie er sie auch in dem Projekt nutzt, für das er den NeuroTech-Innovationspreis erhalten hat. Foto: Helen Friedrich

Würzburg. Sie ermöglicht autonomes Fahren und die automatische Gesichtserkennung beim Entsperren des Smartphones, sie erleichtert industrielle Inspektionen wie die Qualitätskontrolle, aber auch die medizinische Bildanalyse. Die Rede ist von der Computer Vision Algorithmik - einer Sammlung von Algorithmen, die es Computern ermöglicht „zu sehen“ und visuelle Informationen zu verstehen. Ein Team um Dr. Maximilian Friedrich von der Neurologischen Klinik und Poliklinik des Uniklinikums Würzburg (UKW) hat sich die Technologien des maschinellen Sehens zu eigen gemacht, um die Diagnose und Verlaufsbeurteilung der Parkinson-Krankheit zu revolutionieren, an der weltweit mehr als elf Millionen Menschen leiden.

Für sein Forschungsprojekt mit dem Titel „Nutzung von Computer Vision Algorithmik zur präzisen Charakterisierung der Schwere der Parkinsonerkrankung sowie ihres Ansprechens auf die medikamentöse und Hirnstimulationstherapie“ wurde Maximilian Friedrich beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft (DGN) im November 2024 in Berlin mit dem „NeuroTech-Innovationspreis“ ausgezeichnet. Der mit 50.000 Euro dotierte Preis wurde erstmals von der Manfred und Ursula Müller-Stiftung gemeinsam mit der DGN vergeben und soll künftig alle zwei Jahre junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auszeichnen, die an der Entwicklung unkonventioneller, innovativer und kollaborativer KI-Technologien für klinische und translationale Anwendungen arbeiten.

Smartphone-basierter Symptomtracker und videogestütztes System zur schnellen und präzisen Feineinstellung der Tiefen Hirnstimulation

„Bisher basierte die Beurteilung von Parkinson-Symptomen wie Zittern und verlangsamten Bewegungen vor allem auf subjektiven und bestenfalls semi-quantitativen Beobachtungen von Neurologinnen und Neurologen“, berichtet Maximilian Friedrich. „Durch den Einsatz von KI-Algorithmen zur Videoanalyse können wir nun die motorischen Symptome unserer Patientinnen und Patienten deutlich präziser und objektiver erfassen.“ 

Zur Erfassung der motorischen Bewegungen werden lediglich handelsübliche Geräte wie Smartphones benötigt. Die Technologie erlaubt es, automatisch Bewegungsmuster in Videoaufnahmen zu erkennen, die sich manchmal auch der gewöhnlichen Beobachtung durch Expertinnen und Experten entziehen können. Durch die genauere Zustandsbeschreibung lässt sich nicht nur der Schweregrad der Erkrankung besser messen, sondern auch der Erfolg von medikamentösen Therapien und der Tiefen Hirnstimulation genauer beurteilen, was insbesondere für personalisierte Behandlungsansätze wegweisend sein könnte. „Ein KI-gestütztes System hat das Potenzial, die klinische Praxis zu verbessern, Diagnosen zu präzisieren und die Erforschung neurologischer Erkrankungen entscheidend voranzubringen“, resümiert Friedrich, der die Methode in den nächsten Schritten bis zur Erprobung im klinischen Alltag weiterentwickeln will. Das Preisgeld soll ihm dabei helfen, eine eigene Arbeitsgruppe zu den Themen KI und digitale Anwendungen in der Neurologie zu etablieren.

Internationale multidisziplinäre Kollaborationsstruktur

Das multidisziplinäre Projekt wird eng eingebettet in das rasch wachsende Forschungsumfeld der Neurologischen Klinik des UKW unter der Leitung von Professor Dr. Jens Volkmann und vereint lokale Partner aus der Würzburger Universitätsmedizin (u. a. die Arbeitsgruppen von Dr. Robert Peach, Prof. Dr. Daniel Zeller, Prof. Dr. Rüdiger Pryss) mit internationalen Kollaborationen. Zu diesen zählen Experten aus der angewandten Mathematik und Computerwissenschaft (Profs. David Wong und Samuel Relton, University of Leeds), der klinischen Softwareentwicklung (u. a. Prof. Dr. Jane Alty, University of Tasmania, Australien, und Prof. Ryan Roemmich, Johns Hopkins University, USA) sowie der Neurodegenerationsforschung (u. a. Prof. Vikram Khurana, Brigham and Women’s Hospital, Boston, USA).

Links:

Pressemitteilung zu vorhergehenden Publikationen

Publikation im Journal of Neurology: Smartphone video nystagmography using vonvolutional neural networks: ConVNG

Publikationen im npj Digital Medicine: Validation and application of computer vision algorithms for video-based tremor analysis und Head movement dynamics in dystonia: a multi-centre retrospective study using visual perceptive deep learning

Text: Kirstin Linkamp / UKW
 

Maximilian Friedrich posiert vor blauer Wand mit DGN-Logos und hält seine Urkunde in die Kamera.
Dr. Maximilian U. Friedrich, Assistenzarzt und Wissenschaftler an der Neurologischen Klinik und Poliklinik des UKW, erhielt auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Berlin den mit 50.000 Euro dotierten „NeuroTech-Innovationspreis“ der Manfred und Ursula Müller-Stiftung und der DGN. © DGN/Claudius Pflug
Preisträger und Verleihende posieren vor DGN-Werbewand
Verleihung des NeuroTech-Innovationspreises, v.l.n.r. DGN-Präsident Prof. Dr. Lars Timmermann, Kuratoriumsmitglied Katja Engelbert, Preisträger Dr. Maximilian Friedrich, Stifterin Ursula Müller und Dr. Laura Hausmann vom Deutschen Stiftungszentrum. © DGN/Claudius Pflug
Maximilian Friedrich hält den Daumen hoch, auf der Hand leuchten zahlreiche Analysemarker in grün, die mit roten Strichen verbunden sind.d
Dr. Maximilian U. Friedrich hat seine Hand mit Computer Vision Analysemarkern überlagert, wie er sie auch in dem Projekt nutzt, für das er den NeuroTech-Innovationspreis erhalten hat. Foto: Helen Friedrich

EASi-KIDNEY testet vielversprechenden Meilenstein bei chronischer Nierenerkrankung

INTERNATIONALE STUDIE MIT ALDOSTERON-SYNTHASE-HEMMER (ASI) ALS ERGÄNZUNG ZUM SGLT2-INHIBITOR EMPAGLIFLOZIN

EASi-KIDNEY ist eine neue internationale, multizentrische, randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Studie, die untersucht, ob ein Aldosteron-Synthase-Hemmer in Kombination mit dem SGLT2-Inhibitor Empagliflozin das Fortschreiten einer chronischen Niereninsuffizienz verlangsamen und das Risiko einer Krankenhauseinweisung aufgrund von Herzinsuffizienz oder Tod durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Menschen mit chronischer Nierenerkrankung verringern kann. Weltweit sollen 11.000 Patientinnen und Patienten mit und ohne Typ-2-Diabetes in 450 Kliniken rekrutiert werden. Die deutsche Studienzentrale ist am Deutschen Zentrum für Herzinsuffizienz (DZHI) des Universitätsklinikums Würzburg (UKW) angesiedelt.

Das Studienteam in Würzburg stellt sich vor.
Das Studienteam von EASi-KIDNEY in Würzburg v.l.n.r.: Franziska Scheidemantel (Monitoring), Dr. Marcela Fajardo-Moser (Projektleiterin), Dr. Mirjam von Lucadou (Monitoring), Dr. Tereza Cairns (Prüfärztin), Prof. Dr. Christoph Wanner (Hauptprüfer), Dr. Sharang Ghavampour (Monitoring), Dr. Vladimir Cejka (Prüfarzt), Anja Knoppe (Study-Nurse), Isabell Endrich (Projektkoordinatorin) © Anja Knoppe / UKW

Würzburg. Weltweit leben mehr als 850 Millionen Menschen mit einer chronischen Nierenerkrankung. Die unaufhaltsame Krankheit ist nicht heilbar. Doch dank der Forschung und neuer medikamentöser Therapien kann das Fortschreiten der Erkrankung in vielen Fällen verzögert werden. Ein wichtiger Therapiebaustein, der noch mehr Patientinnen und Patienten noch länger vor der Dialyse und dem endgültigen Versagen von Herz und Nieren bewahren könnte, wird jetzt in der neuen klinischen Studie EASi-KIDNEY geprüft. 

Aldosteron-Synthase-Inhibitor (ASi) zur Senkung des Blutdrucks und Entlastung von Herz und Niere

Im Fokus der internationalen Phase-III-Studie steht ein Aldosteron-Synthase-Inhibitor (ASi) Vicadrostat. Der von Boehringer Ingelheim entwickelte Wirkstoff blockiert die Aktivität eines Enzyms, das für die Produktion des Hormons Aldosteron verantwortlich ist. Durch die Hemmung der Aldosteron-Synthase wird weniger Aldosteron produziert, was dazu führt, dass der Körper weniger Natrium und Wasser speichert und mehr Kalium behält. „Das kann helfen, den Blutdruck zu senken und das Herz sowie die Nieren zu entlasten“, erklärt Prof. Dr. Christoph Wanner, stellvertretender Vorsitzender des EASi-KIDNEY Trial Steering Committee. Christoph Wanner ist Senior Professor sowohl am Department für Klinische Forschung und Epidemiologie des Deutschen Zentrums für Herzinsuffizienz Würzburg (DZHI) am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) als auch am Nuffield Department of Population Health (NDPH) der Clinical Trial Service Unit (CTSU) der Universität Oxford.

Empagliflozin kann Nierenkranke jahrelang vor der Dialyse bewahren und ist Teil von EASi-Kidney

Seit fast 20 Jahren führt Christoph Wanner zusammen mit der Universität Oxford große Studien wie SHARP, REVEAL und EMPA-Kidney durch. In der multizentrischen EMPA-Kidney-Studie bewies das Studienteam bereits eindrucksvoll die Wirksamkeit des SGLT2-Inhibitors Empagliflozin. Die tägliche Einnahme einer Tablette Empagliflozin senkt nicht nur den Blutzucker, sondern kann bei Nierenpatientinnen und -patienten auch eine Verschlechterung der Nierenfunktion oder den Tod durch Herzerkrankungen verhindern, unabhängig davon, ob sie an Diabetes Typ 2 leiden oder nicht. 

Empagliflozin ist deshalb auch Teil der EASi-KIDNEY-Studie. Alle Studienteilnehmenden nehmen einmal täglich 10 mg Empagliflozin ein. Die Hälfte der Teilnehmenden erhält zusätzlich 10 mg des Aldosteron-Synthase-Inhibitor (ASi), die andere Hälfte ein Scheinmedikament (Plazebo). Da es sich um eine doppelblinde, randomisierte, kontrollierte Studie handelt, wissen weder die Teilnehmenden noch die Behandelnden, wer Vicadrostat erhält.

11.000 Patientinnen und Patienten aus 450 Kliniken weltweit – 50 Kliniken in Deutschland – Studienzentrale ist in Würzburg

450 Kliniken in 18 Ländern sollen insgesamt 11.000 Patientinnen und Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz rekrutieren. Die deutsche Studienzentrale ist am DZHI Würzburg angesiedelt und wird von Dr. Marcela Fajardo-Moser geleitet. Für die Organisation, Koordination und das Monitoring der Investigator-initiierten Studie erhält das Clinical Trial Office am DZHI rund 8 Millionen Euro aus Oxford. „Wir konnten bereits 47 Zentren in Deutschland für die Studie gewinnen, 50 Zentren sind unser Ziel“, sagt Tereza Cairns, Fachärztin für Innere Medizin und Nephrologie am UKW und verantwortlich für das Prüfzentrum in Würzburg. „Voraussetzung für die Teilnahme ist ein gültiges Good Clinical Practice Certificate des medizinischen Personals sowie eine Study Nurse und eine Stellvertretung. Insgesamt wollen wir 1.250 Patientinnen und Patienten mit etablierter chronischer Niereninsuffizienz in Deutschland rekrutieren.“ 

ASi als Ergänzung zu Empagliflozin lieferte vielversprechende Ergebnisse in Phase-II-Studie

Die Ergebnisse der Phase-II-Studie für Vicadrostat, die auf der Kidney Week 2023 der American Society of Nephrology (ASN) vorgestellt wurden, waren vielversprechend. Nach 14-wöchiger Einnahme von Vicadrostat zusätzlich zu Empagliflozin zeigte sich bereits ein signifikanter Rückgang der Albuminurie um bis zu 40 Prozent im Vergleich zum Placebo - das Vorhandensein von Albumin im Urin gilt als Marker für Nierenschäden.

Für Christoph Wanner ist der Aldosteron-Synthase-Inhibitor eine Weiterentwicklung der dritten Therapiesäule zur Stabilisierung der Nierenerkrankung. Während der Aldosteron-Rezeptor-Blocker Finerenon die Wirkung von Aldosteron verhindert, indem er das Hormon an seine Rezeptoren bindet, setzt der Aldosteron-Synthase-Inhibitor früher an, indem er die Produktion von Aldosteron verhindert und das dafür notwendige Enzym blockiert. ASi könnte diese Lücke noch etwas besser schließen.  

Verschiedene Säulen um die Nierenerkrankung eines Tages vollständig zu stoppen

Welche Säulen gibt es bereits? „Wir haben als erste Säule die RAS-Blocker wie etwa die ACE-Hemmer, die das Renin-Angiotensin-System (RAS) hemmen, und dabei helfen, den Blutdruck zu senken, die Herzbelastung zu reduzieren und die Nierenfunktion zu schützen. Die zweite Säule bilden die SGLT-2-Hemmer.“ Die dritte Säule bilden wie oben beschrieben der Aldosteron-Rezeptor-Blocker beziehungsweise der Aldosteron-Synthase-Inhibitor. Als vierte Säule sieht Wanner den Schlankmacher Semaglutid, auch als Abnehmspritze bekannt. Der GLP-1-Rezeptoragonist ahmt die Wirkung des körpereigenen Hormons GLP-1 nach, das eine wichtige Rolle bei der Blutzucker- und Appetitregulation spielt. Das ursprünglich als Antidiabetikum entwickelte Medikament hat neben der Gewichtsabnahme, der Verbesserung der Blutzuckerwerte und der Blutdrucksenkung auch positive Auswirkungen auf Herz und Nieren, wie Studien gezeigt haben. Derzeit ist der Wirkstoff nur für Diabetiker zugelassen, eine Zulassung für Niereninsuffizienz erwartet Wanner im kommenden Jahr. „Wir haben in kurzer Zeit vier Säulen, mit denen wir das Fortschreiten der Krankheit deutlich verzögern können“, sagt Christoph Wanner. Leider sterben immer noch zu viele Patientinnen und Patienten an Komplikationen, Komorbiditäten oder erreichen das Dialysestadium. Es brauche eine Früherkennung und weitere Säulen. Die fünfte könnte Wanner zufolge ein endokriner Rezeptor-Antagonist sein, die sechste ein löslicher Guanylatzyklase-Aktivator. „Wir arbeiten an dem Konzept, um diese Nierenerkrankung eines Tages hoffentlich komplett zum Stillstand zu bringen“, sagt Wanner. Denn es wird wohl nicht bei den 850 Millionen Betroffenen weltweit bleiben. Es wird erwartet, dass die chronische Nierenerkrankung parallel zu Begleiterkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck und Adipositas im Alter weiter zunimmt.

Internationale Studienwebseite:https://www.easikidney.org/

Kontakt zum EASi-KIDNEY-Studienteam: 
Clinical Trial Office am
Universitätsklinikum Würzburg
Am Schwarzenberg 15, Haus A15
97078 Würzburg
Telefon: 0931 201-46343
E-Mail: ClinicalTrialOffice@ukw.de

Text: Kirstin Linkamp / UKW 

Das Studienteam in Würzburg stellt sich vor.
Das Studienteam von EASi-KIDNEY in Würzburg v.l.n.r.: Franziska Scheidemantel (Monitoring), Dr. Marcela Fajardo-Moser (Projektleiterin), Dr. Mirjam von Lucadou (Monitoring), Dr. Tereza Cairns (Prüfärztin), Prof. Dr. Christoph Wanner (Hauptprüfer), Dr. Sharang Ghavampour (Monitoring), Dr. Vladimir Cejka (Prüfarzt), Anja Knoppe (Study-Nurse), Isabell Endrich (Projektkoordinatorin) © Anja Knoppe / UKW