Jena/Würzburg. Macht eine postoperative Schmerztherapie mit Opioiden süchtig? In den USA und einigen anderen Ländern der Welt, die mit massivem Opioid-Fehlgebrauch zu kämpfen haben, wird dies vermutet und bereits empfohlen, auf dieses Schmerzmittel während und nach Narkosen zu verzichten. Auch in Deutschland ist der Gesamt-Opioidverbrauch seit Jahren relativ hoch – eine Forschungsgruppe unter Leitung des Universitätsklinikums Jena und mit Beteiligung des Uniklinikums Würzburg untersuchte nun, ob Operationen eine längerfristige Opioideinnahme auslösen können und ob bestimmte Eingriffe besonders dazu beitragen.
1,4 Prozent von 200.000 Versicherten haben sechs Monate nach der Operation Opioide verordnet bekommen
Dazu wurden die Daten aller im Jahr 2018 operierten BARMER-Versicherten daraufhin untersucht, ob in den beiden Quartalen nach der Operation eine Opioidverordnung vorlag. Um den Einfluss von Operation, Narkose und postoperative Schmerztherapie als mögliche Auslöser für eine langfristige Opioideinnahme untersuchen zu können, wurden Personen mit einer Krebserkrankung oder einer bereits bestehenden Opioideinnahme von der Analyse ausgeschlossen. Die gute Nachricht: Von den mehr als 200.000 operierten Patientinnen und Patienten erhielten sechs Monate nach der Operation nur 1,4% derartige Schmerzmittel-Rezepte. „Diese Zahl ist in Nordamerika drei- bis viermal höher“, betont Johannes Dreiling, Erstautor der Studie aus Jena.
Nach Amputationen erhalten 15 bis 20 Prozent der Operierten längerfristig Opioide
Die Studie verglich jedoch auch erstmals detailliert die Unterschiede zwischen einzelnen Operationen – mit zum Teil überraschenden Ergebnissen. So lag die langfristige Opioidverordnung nach Wirbelsäulen-, Schulter- und Sprunggelenksoperationen sowie wiederholten Gelenkersatz-Eingriffen um den Faktor 3 bis 7 über dem Durchschnitt. Absoluter „Spitzenreiter“ waren jedoch Amputationen, nach denen ca. 15-20% der Betroffenen längere Zeit Opioide verschrieben bekamen. Ursula Marschall, Leiterin Versorgungsforschung der BARMER: „Diese Ergebnisse deuten an, dass Opioide nach Operationen nicht generell verdammt werden sollten, zumal sie weniger organschädigende Wirkungen haben als viele andere Schmerzmittel. Aber nach bestimmten Operationen müssen wir Patientinnen und Patienten enger als bisher betreuen und begleiten, um Schmerz- und Medikationsprobleme, sowie eine möglicherweise beginnende Abhängigkeit rechtzeitig zu erkennen und konsequent zu behandeln.“
Krankenkassendaten sind wichtiger Baustein zur Versorgungsforschung
Neben der Operation konnten in der Studie noch weitere Risikofaktoren für einen längerfristigen Opioidgebrauch identifiziert werden. Dazu gehören die Verschreibung von Antidepressiva und anderen Schmerzmitteln bereits vor der Operation, Alkoholmissbrauch sowie vorbestehende chronische Schmerzen. „Unsere Arbeit belegt erneut, welches Potential, aber auch welche Limitationen Auswertungen von Routine- und Registerdaten haben. So können Krankenkassendaten sehr exakte Angaben zur Medikamentenverschreibung liefern Es ist jedoch schwierig herauszufinden, warum diese Medikamente eingenommen wurden. Daher können wir nicht genau erkennen, bei welchen Menschen die Opioideinnahme gerechtfertigt war“ so Letztautor Daniel Schwarzkopf. Prof. Dr. Heike Rittner, die mit ihrem Zentrum interdisziplinäre Schmerzmedizin (ZiS) am Uniklinikum Würzburg die hochkomplexe Datenauswertung unterstützt hat, betont: „Solche Routine-Datenbanken haben die Daten passend zu den Abrechnungscodes und nicht zu wissenschaftlichen Fragestellungen.“ Dennoch: Die Analyse von Krankenkassendaten werde auch in Zukunft ein wichtiger Baustein der Versorgungsforschung sein.
Publikation:
Dreiling J, Rose N, Arnold C, Baumbach P, Fleischmann-Struzek C, Kubulus C, Komann M, Marschall U, Rittner HL, Volk T, Meißner W, Schwarzkopf D: The incidence and risk factors of persistent opioid use after surgery—a retrospective secondary data analysis. Dtsch Arztebl Int 2024; 121: online first. https://www.aerzteblatt.de/int/archive/article/241469 , DOI:10.3238/arztebl.m2024.0200
Förderhinweis:
Die Studie ist im Rahmen des Projektes LOPSTER entstanden, das vom Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) gefördert wurde.