Wenn Taubheit und Blindheit nicht erkannt werden
Mehrfach behinderte Menschen haben oft Schwierigkeiten, ihre Beeinträchtigungen zu benennen. Ein neues Versorgungsmodell setzt genau hier an, um den Patientinnen und Patienten schneller zu helfen.
Werden Sinnesbehinderungen adäquat behandelt, verbessert das die Teilhabe.
Dr. Sophie Flandin
HNO-Ärztin
Dr. Christoph Kalantari
Augenarzt
Es erscheint fast unvorstellbar: Da sieht jemand kaum noch und hört gleichzeitig schlecht. Doch keinem fällt das auf. Tatsächlich kommt das jedoch häufig vor. Und zwar bei mehrfach beeinträchtigten Menschen, etwa durch ein geistiges Handicap. Sie können kaum sprechen, sind kaum mobil und auf Hilfe von außen angewiesen. Durch ein neues Versorgungsmodell, das derzeit in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Taubblindenwerk und mehreren Uniklinika Deutschlands sowie Krankenkassen etabliert wird, soll unter anderem diesen Patienten früher geholfen werden.
Das Versorgungsmodell entsteht in Zusammenarbeit des Blindeninstituts und der Uniklinik Würzburg und wird gefördert durch den Innovationsfonds des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Knotenpunkt des Programms ist ein neuer Diagnostikversorgungsstützpunkt (DVSP) im lokalen Blindeninstitut. Dort wird das Hör- und Sehvermögen der mehrfach beeinträchtigen Patientinnen und Patienten gescreent. Bei Hör- oder Sehproblemen erfolgt eine Überweisung an die Uniklinik. Dort setzen sich HNO-Ärztin Dr. Sophie Flandin sowie Augenarzt Dr. Christoph Kalantari für schwerbehinderte Patienten mit Sinnesbeeinträchtigungen ein.
Anlaufstelle bietet Screeningdiagnostik für Hören und Sehen
Solche Patienten werden natürlich schon heute behandelt, so Dr. Flandin. Soeben war ein 59-Jähriger bei ihr. Aufgrund seiner vielfachen Behinderungen lebt er im Altenheim. Einer neuen Betreuerin fiel auf, dass der Mann offenbar seit Jahren schlecht sieht und hört. Allein ihr ist es zu verdanken, dass er direkt in die Uniklinik kam. Der Verdacht bestätigte sich: „Er war fast taub und hatte eine Katarakt, also eine Trübung der Augenlinse.“ Nach Anpassung von passenden Hörhilfen und einer Augenoperation verbesserte sich seine Teilhabe am Leben deutlich.
Der neue, vorgeschaltete Stützpunkt am Blindeninstitut ist wichtig, weil mehrfach behinderte Menschen eher selten in die Uniklinik kommen. Die ist so groß, so unüberschaubar. Das schreckt ab. Beim Stützpunkt handelt es sich um eine aus zwei Räumen bestehende Anlaufstelle. Hier findet Hör- und Sehdiagnostik auf Screening-Niveau statt. Die Mitarbeiter sichten außerdem sämtliche Befunde und bündeln Unterlagen. Im Anschluss gibt es dann Fallbesprechungen mit Teilnahme aller behandelnden Personen, um den bestmöglichen Versorgungsplan für den individuellen Patienten zu erstellen. Dadurch verkürzt sich die Zeit in der Uniklinik. „Wir rechnen damit, dass wir im Laufe des nächsten Jahres die ersten Patienten zugewiesen bekommen“, erklärt Dr. Kalantari. Schnellere Behandlung durch effiziente Beratung und Therapie an der Uniklinik
Einen DVSP gibt es nicht nur in Würzburg. Auch in Berlin, Hannover und Stuttgart werden solche Stützpunkte aufgebaut. Sie alle sind Teil eines auf drei Jahre angelegten Pilotprojekts namens „GaViD-Sinne“, in dem sich Krankenhäuser, Krankenkassen und Facheinrichtungen engagieren. Verbunden ist das Projekt mit der Hoffnung auf schnellere Hilfe für Patienten und Kosteneinsparungen. Aktuell haben die Patienten oft eine Odyssee mit vielen Terminen bei niedergelassenen Ärzten hinter sich, bevor sie am Uniklinikum eine interdisziplinär abgestimmte, umfassende Therapie bekommen.