
Jubiläum der Medizin-Detektive
Das Zentrum für Seltene Erkrankungen Nordbayern (ZESE) am UKW ist seit zehn Jahren Anlaufstelle für Menschen, die Symptome einer Seltenen Erkrankung, aber keine Diagnose haben.

Prof. Helge Hebestreit
Direktor ZESE
In Bayern haben rund 600.000 Menschen eine Seltene Erkrankung. Für Nordbayern ist das „Zentrum für Seltene Erkrankungen“ am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) die überregionale Einrichtung. Jährlich werden über 9000 Menschen am UKW mit einer Seltenen Erkrankung stationär betreut. Und dazu kommen noch viel mehr ambulante Behandlungen. Neben der Versorgung der betroffenen Menschen steht auch die Forschung im Mittelpunkt.
Am 29. Februar, dem offiziellen Tag der Seltenen Erkrankungen, feierte das ZESE sein zehnjähriges Bestehen mit einem Festsymposium. Das Engagement und die Expertise von Direktor Prof. Dr. Helge Hebestreit und seinem Team wurden in zahlreichen Grußworten sowie Videobotschaften gewürdigt.
Herr Prof. Hebestreit, hinter den Kulissen werden Sie auch mal „der Dr. House Deutschlands“ genannt, nach dem detektivischen Arzt aus der gleichnamigen TV-Serie. Wissen Sie, oder?
Was? Nein. (Grinst verschmitzt.) Lassen Sie uns lieber über das ZESE sprechen.
Gerne. Das ZESE wird als Leuchtturm in der Versorgung mit einer großen Vernetzung bezeichnet.
Ohne Vernetzung ginge es bei etwa 8000 verschiedenen Seltenen Erkrankungen auch gar nicht. Zumal jährlich etwa 200 neue dazukommen. Das zeigt, wie relevant unsere Zentren sind. Deshalb haben sich die sechs bayerischen Unikliniken in Würzburg, Regensburg, Erlangen, München (TU und LMU) und Augsburg im sogenannten BASE-Netz zusammengeschlossen. Wir können bei Bedarf datenschutzkonform gemeinsam auf Patientenakten zugreifen, wir bündeln so Kompetenzen und sammeln wichtige Daten für Forschungsprojekte. Das hat Vorbildcharakter für das Gesundheitswesen.
Sie werden auch als Medizin-Detektive bezeichnet. Wie können Sie helfen?
Unsere Patientinnen und Patienten haben meist eine jahrelange Odyssee hinter sich, von Hausarzt zu Fachärzten und wieder zurück. Unspezifische Symptome und Auswirkungen auf mehrere Organsysteme erschweren die Diagnosefindung. Wir sind oft die „letzte Instanz“. Über BASE-Netz können Patienten oder beratende Ärzte alle Unterlagen und Arztbriefe hochladen. Anhand der Unterlagen suchen wir im multiprofessionellen Team nach einer Diagnose. Falls notwendig, führen wir weitere Untersuchungen durch oder veranlassen sie.
Wie geht es dann weiter?
Seltene Erkrankungen zu erkennen ist oftmals Teamarbeit, über Einrichtungsgrenzen hinweg. Haben wir Hinweise auf eine Seltene, können wir auf 22 Fachzentren am eigenen Uniklinikum verweisen. Darüber hinaus arbeiten wir aber mit allen Zentren für Seltene Erkrankungen und Fachzentren in Deutschland und europaweit zusammen.
Können Sie allen helfen?
Im ZSE-DUO-Projekt konnten wir in rund 40 Prozent der Fälle die Symptome erklären, das heißt, wir können sie mit einer oder mehreren Erkrankungen in Verbindung bringen. Bei rund 10 bis 15 Prozent findet sich eine Seltene Erkrankung. Leider sind gute Behandlungen nur für wenige Seltene verfügbar. Wo wir können, empfehlen wir Behandlungsmöglichkeiten. Außerdem bekommt jeder von uns einen Abschlussbericht. Oft sind die Menschen auch erleichtert, zu wissen, welche Erkrankung hinter ihren Symptomen steckt und dass sie sich das nicht einbilden.
Gibt es auch bekanntere Seltene Erkrankungen?
Ja, zum Beispiel die Mukoviszidose. Hierzulande leben zurzeit 8000 Menschen mit der Erkrankung, bei der sich zäher Schleim in allen Gangsystemen des Körpers ansammelt. Durch die Forschungsarbeit von Einrichtungen wie dem „Christiane Herzog-Zentrum“ am UKW wurde die Lebenserwartung dieser Menschen mittlerweile um Jahrzehnte nach oben geschraubt. Die Zahl zeigt übrigens, dass „selten“ für uns nicht unbedingt „wenig“ bedeutet. Eine Krankheit gilt als selten, wenn maximal fünf von 10 000 Menschen an ihr erkrankt sind.
Patientinnen und Patienten sind auch nicht selten ihre eigenen Experten. Wie nutzen Sie dieses Potential?
Die enge Zusammenarbeit mit den Erkrankten und der Selbsthilfe ist gerade auch hier in Würzburg enorm ausgeprägt und unersetzbar. Es gibt z. B. den Würzburger Arbeitskreis für Seltene Erkrankungen (WAKSE), der auch durch das Aktivbüro der Stadt unterstützt wird. Überregional sind der Dachverband ACHSE oder die Eva Luise und Horst Köhler Stiftung sehr aktiv.
Vor welchen Herausforderungen stehen die Zentren?
Das sind eigentlich drei Punkte: Erstens brauchen wir eine ausreichende Finanzierung gerade für die multiprofessionelle ambulante Versorgung der vielen Betroffenen. Zweitens muss die altersgruppenübergreifende Versorgung sichergestellt werden. Manchmal gibt es gar keine spezialisierte Versorgung für Erwachsene. Und auch wenn anstelle des langjährigen Teams in der Kinderklinik im Erwachsenenalter ein neuer Arzt mit einem ganz anderen multiprofessionellen Team die Betreuung übernimmt, evtl. sogar an einem anderen Standort, kann dies eine große Herausforderung sein. Hier müssen neue Versorgungskonzepte entwickelt werden. Und drittens muss auch Kontinuität der Versorgung an den Standorten gewährleistet sein, wenn z. B. die Leitung eines Zentrums wechselt und sich somit oft auch das Fachinteresse verschiebt.

Das multiprofessionelle Team des Würzburger ZESE bei der wöchentlichen Unterlagensichtung (von links): Dr. Alicja Kunikowska, Prof. Helge Hebestreit, Jacqueline Schlaug, Dr. Simon Heiduk, Dr. Neda Dragicevic Babic.